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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Naturgewalt, ein Strom ohne Wehre, und das Gewissen kommt als objective pvi_1294.002
Macht in persönlicher Form, als die That eines Größeren und pvi_1294.003
Stärkeren über sie. Die Helden sind ächte Typen nationaler Grundzüge, pvi_1294.004
die Heldinnen nicht minder. Daß fast keine transcendenten Mächte einwirken, pvi_1294.005
daß Odin und der Fluch, den Andwari auf das Gold gelegt, in pvi_1294.006
der deutschen Sage ausgewaschen ist und einzig noch Alberich und die pvi_1294.007
Meerweiber als mythisches Motiv bleiben, ist schon ein schwierigerer Punct. pvi_1294.008
Allein wir können uns auch gefallen lassen, daß der Mythus nicht ausdrücklich pvi_1294.009
im Epos hervortritt, nur noch durchschimmert; es mag genügen, pvi_1294.010
daß das Element des Ganzen noch dasselbe sei, das ursprünglich auch den pvi_1294.011
Götterglauben nothwendig in sich befaßt, daß nur an dessen Stelle die pvi_1294.012
Motive noch nicht in der Weise subjectiver Reflectirtheit in das Jnnere pvi_1294.013
geworfen seien, daß mit Einem Worte nur die Form des Bewußtseins pvi_1294.014
überhaupt noch objectiv, "grundheidnisch" sei. Gewonnen aber wird im pvi_1294.015
deutschen Epos durch solche Haltung jene eiserne Großheit des Charakters, pvi_1294.016
der ganz mit dem Schicksale zusammenwächst, ächt erhaben es zu sich pvi_1294.017
herüberzieht und so mit ihm identisch wird, indem er seine That ganz auf pvi_1294.018
sich nimmt, für alle Folgen einsteht und dem sicheren Untergang ohne pvi_1294.019
Wanken entgegengeht. Es ist dieß noch nicht zu dramatisch, deßwegen pvi_1294.020
nicht, weil aller bewußte Conflict von Prinzipien noch ausgeschlossen und pvi_1294.021
weil der Schicksalsgang durch die episch nöthigen, vielen und breiten Retardationen pvi_1294.022
gehemmt ist. Die bange und schwüle Atmosphäre, der Drang pvi_1294.023
zum tragischen Ende, dieser düstere Balladengeist bleibt aus denselben Gründen pvi_1294.024
noch in den Grenzen des Epischen und ersetzt gewissermaaßen das Einwirken pvi_1294.025
feindseliger Götter. Glücklichen Schluß haben wir in §. 868 nicht pvi_1294.026
als nothwendig erkannt. Man kann sagen, es äußere sich im drängenden, pvi_1294.027
gespannten tragischen Geiste des Nibelungenlieds ein dramatischer Beruf pvi_1294.028
des germanischen Dichtergeistes, aber er zerstört in dieser Erscheinung noch pvi_1294.029
nicht das Wesen des Epos. - Das Unternehmen, wovon es sich handelt, pvi_1294.030
ist zwar kein nationales, doch fühlt sich im Heldenkampfe gegen die Hunnen pvi_1294.031
noch die weltgeschichtliche Collision des deutschen Volkes, sein großer Beruf, pvi_1294.032
den es in den Riesenschlachten der Völkerwanderung bewährt hat, pvi_1294.033
vernehmlich durch. Sitte und Culturform ist nach manchen Seiten ächt pvi_1294.034
episch, ausgiebig, reichlich und doch gediegen, namentlich wenn man die pvi_1294.035
Gudrun zu den Nibelungen hinzunimmt, die so schön der Odyssee, wie pvi_1294.036
diese der Jlias, entspricht. - Nun aber drängen sich auf der andern Seite pvi_1294.037
die großen Uebelstände auf, die sich alle darin zusammenfassen, daß das pvi_1294.038
deutsche Volk nicht das Glück gehabt hat, in ununterbrochen stetigem pvi_1294.039
Gange seine Heldensage bis zum Abschlusse fortzubilden: das Vergessen pvi_1294.040
ursprünglicher Motive der Handlung, die doch noch durchschimmern und pvi_1294.041
in ihrer richtigen Gestalt zum Verständnisse nöthig sind (so namentlich

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Naturgewalt, ein Strom ohne Wehre, und das Gewissen kommt als objective pvi_1294.002
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/156>, abgerufen am 25.11.2024.