Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1267.001 Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Persönlichkeit pvi_1267.008 Der wesentliche Jnhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe pvi_1267.014 pvi_1267.001 Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Persönlichkeit pvi_1267.008 Der wesentliche Jnhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe pvi_1267.014 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0129" n="1267"/><lb n="pvi_1267.001"/> erscheint daher trotz der Selbständigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht <lb n="pvi_1267.002"/> von schneidend radicalem Charakter sein darf, als getragen vom allgemeinen <lb n="pvi_1267.003"/> Strome des Weltlebens, auf den er als voller Mensch vielseitig bezogen ist, <lb n="pvi_1267.004"/> und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden <lb n="pvi_1267.005"/> mag, wird ebensosehr als ein äußeres Bestimmtsein, die That als sinnliche Bewegung <lb n="pvi_1267.006"/> der Außenwelt in der Breite ihrer Erscheinung dargestellt.</p> <lb n="pvi_1267.007"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Persönlichkeit <lb n="pvi_1267.008"/> und Stimmung und handeln zuerst von jenem. Hier sind nun, <lb n="pvi_1267.009"/> wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und <lb n="pvi_1267.010"/> Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle wesentlichen <lb n="pvi_1267.011"/> Züge vom Merkmale des <hi rendition="#g">Vergangenen</hi> abzuleiten, und dazu hat der <lb n="pvi_1267.012"/> vorh. §. den Grund gelegt.</hi> </p> <lb n="pvi_1267.013"/> <p> <hi rendition="#et"> Der wesentliche Jnhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe <lb n="pvi_1267.014"/> der Poesie, Persönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842) <lb n="pvi_1267.015"/> darzustellen, gilt natürlich auch diesem Zweige und kann durch die folgenden <lb n="pvi_1267.016"/> scheinbar widersprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon <lb n="pvi_1267.017"/> Aristoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie <lb n="pvi_1267.018"/> dramatischen Jnhalt, d. h., daß Eine vollständige und vollendete Handlung <lb n="pvi_1267.019"/> den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß sie die Vielheit des <lb n="pvi_1267.020"/> Geschehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbestimmung <lb n="pvi_1267.021"/> gesetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben ist der Unterschied von der <lb n="pvi_1267.022"/> bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Jnhalt noch bezeichnet haben, <lb n="pvi_1267.023"/> und hiemit, wie Aristoteles hervorhebt, von der Geschichtschreibung, deren <lb n="pvi_1267.024"/> Verhältniß zur Poesie in §. 848, Anm. besprochen ist. Allein die <lb n="pvi_1267.025"/> Handlung im Epos ist vergangen. Jm Augenblick ihres Eintritts scheint <lb n="pvi_1267.026"/> jede Handlung wie eine aus grundloser Tiefe steigende, nur von sich ausgehende, <lb n="pvi_1267.027"/> im tiefsten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des <lb n="pvi_1267.028"/> Wirklichen zu durchbohren; ist sie aber vollendet und vorüber, so zählt man <lb n="pvi_1267.029"/> sie selbst zu diesem Complexe. Zunächst einfach, weil nichts mehr an ihr <lb n="pvi_1267.030"/> zu ändern ist, sie ist nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück, <lb n="pvi_1267.031"/> man überschaut sie im Zusammenhang, man urtheilt pragmatisch, man <lb n="pvi_1267.032"/> sucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten <lb n="pvi_1267.033"/> und auf weitere Motive und Ursachen zurückweisen; sie erscheint so als <lb n="pvi_1267.034"/> Wirkung, als ein <hi rendition="#g">Gegebenes;</hi> man blickt vorwärts und erkennt sie als <lb n="pvi_1267.035"/> Ursache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabsichtigten, also <lb n="pvi_1267.036"/> dem Willen, nur sehr mittelbar zusammenhängen. So reiht sich trotz dem <lb n="pvi_1267.037"/> innern Unterschiede die Handlung in die Linie aller andern Ursachen und <lb n="pvi_1267.038"/> Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, einfachen <lb n="pvi_1267.039"/> Seins ist, und es stellt sich auf einem Umwege der Begriff der Begebenheit <lb n="pvi_1267.040"/> wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) sagt, der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1267/0129]
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erscheint daher trotz der Selbständigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht pvi_1267.002
von schneidend radicalem Charakter sein darf, als getragen vom allgemeinen pvi_1267.003
Strome des Weltlebens, auf den er als voller Mensch vielseitig bezogen ist, pvi_1267.004
und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden pvi_1267.005
mag, wird ebensosehr als ein äußeres Bestimmtsein, die That als sinnliche Bewegung pvi_1267.006
der Außenwelt in der Breite ihrer Erscheinung dargestellt.
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Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Persönlichkeit pvi_1267.008
und Stimmung und handeln zuerst von jenem. Hier sind nun, pvi_1267.009
wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und pvi_1267.010
Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle wesentlichen pvi_1267.011
Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der pvi_1267.012
vorh. §. den Grund gelegt.
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Der wesentliche Jnhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe pvi_1267.014
der Poesie, Persönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842) pvi_1267.015
darzustellen, gilt natürlich auch diesem Zweige und kann durch die folgenden pvi_1267.016
scheinbar widersprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon pvi_1267.017
Aristoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie pvi_1267.018
dramatischen Jnhalt, d. h., daß Eine vollständige und vollendete Handlung pvi_1267.019
den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß sie die Vielheit des pvi_1267.020
Geschehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbestimmung pvi_1267.021
gesetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben ist der Unterschied von der pvi_1267.022
bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Jnhalt noch bezeichnet haben, pvi_1267.023
und hiemit, wie Aristoteles hervorhebt, von der Geschichtschreibung, deren pvi_1267.024
Verhältniß zur Poesie in §. 848, Anm. besprochen ist. Allein die pvi_1267.025
Handlung im Epos ist vergangen. Jm Augenblick ihres Eintritts scheint pvi_1267.026
jede Handlung wie eine aus grundloser Tiefe steigende, nur von sich ausgehende, pvi_1267.027
im tiefsten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des pvi_1267.028
Wirklichen zu durchbohren; ist sie aber vollendet und vorüber, so zählt man pvi_1267.029
sie selbst zu diesem Complexe. Zunächst einfach, weil nichts mehr an ihr pvi_1267.030
zu ändern ist, sie ist nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück, pvi_1267.031
man überschaut sie im Zusammenhang, man urtheilt pragmatisch, man pvi_1267.032
sucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten pvi_1267.033
und auf weitere Motive und Ursachen zurückweisen; sie erscheint so als pvi_1267.034
Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt sie als pvi_1267.035
Ursache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabsichtigten, also pvi_1267.036
dem Willen, nur sehr mittelbar zusammenhängen. So reiht sich trotz dem pvi_1267.037
innern Unterschiede die Handlung in die Linie aller andern Ursachen und pvi_1267.038
Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, einfachen pvi_1267.039
Seins ist, und es stellt sich auf einem Umwege der Begriff der Begebenheit pvi_1267.040
wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) sagt, der
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