Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1262.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0124" n="1262"/><lb n="pvi_1262.001"/> Hier ist nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu sagen, die <lb n="pvi_1262.002"/> dem Lyrischen gegeben ist. Es scheint der Zeit und dem Begriffe nach, <lb n="pvi_1262.003"/> oder, wenn man will: der Zeit nach, <hi rendition="#g">weil</hi> dem Begriffe nach vielmehr <lb n="pvi_1262.004"/> das Erste zu sein, denn die Poesie ist die enge Nachbarinn der Musik, <lb n="pvi_1262.005"/> kommt aus ihr und schickt sich an, aus der Jnnerlichkeit der Empfindung <lb n="pvi_1262.006"/> die Welt der Objecte wieder zu erschließen und auszubreiten, ihr Wesen ist <lb n="pvi_1262.007"/> die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyrische Ergießungen <lb n="pvi_1262.008"/> der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die ersten <lb n="pvi_1262.009"/> Aeußerungen der dichterischen Phantasie. Ein Jnteresse der bloßen logischen <lb n="pvi_1262.010"/> Consequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzustellen, <lb n="pvi_1262.011"/> wäre nur eine Verirrung der Abstraction und das System könnte ganz <lb n="pvi_1262.012"/> ebensogut hier dem Subjectiven die erste Stelle anweisen, dann das Objective <lb n="pvi_1262.013"/> aus ihm hervortreten lassen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe <lb n="pvi_1262.014"/> der bildenden Künste umgekehrt die subjectivste unter ihnen, die Malerei, <lb n="pvi_1262.015"/> als dritte, nicht als zweite gesetzt worden ist. Allein genauer betrachtet <lb n="pvi_1262.016"/> verhält sich die Sache anders: die ältesten Lieder waren überall objectiven <lb n="pvi_1262.017"/> Jnhalts, priesen Thaten der Götter und Menschen; freilich in lyrischem <lb n="pvi_1262.018"/> Tone, und man kann insofern sagen, es liege hier eine noch unentwickelte <lb n="pvi_1262.019"/> Einheit des Lyrischen und Epischen vor, allein es war keine Einheit, die <lb n="pvi_1262.020"/> ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epische Element herrschte <lb n="pvi_1262.021"/> und gestaltete sich zuerst weiter zu bestimmten Formen, zu Heldenliedern, <lb n="pvi_1262.022"/> die dann zu Epen zusammenwuchsen, während das subjective, lyrische noch <lb n="pvi_1262.023"/> lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entschiedene Form in das <lb n="pvi_1262.024"/> Licht der Geschichte der Poesie herauszutreten, vielmehr die späte Reife der <lb n="pvi_1262.025"/> Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Gemüthe <lb n="pvi_1262.026"/> des Menschen erst die tiefere und reichere Resonanz gibt, ihm die <lb n="pvi_1262.027"/> Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyrischen <lb n="pvi_1262.028"/> Dichtung als stehendem Zweige soll die Rede sein können. Historisch und <lb n="pvi_1262.029"/> psychologisch hat den Beweis für den Vorgang des Epischen Wackernagel <lb n="pvi_1262.030"/> geführt (Schweiz. Mus. f. histor. Wissensch. „Die epische Poesie“ B. 1 u. 2). <lb n="pvi_1262.031"/> Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet: <lb n="pvi_1262.032"/> der ideale Weltgehalt erscheint dem Jndividuum, das noch nicht durch die <lb n="pvi_1262.033"/> Arbeit der Bildung in sich zurückgetreten ist, als objectives Sein, Macht, <lb n="pvi_1262.034"/> Geschichte. Kindliche Bewunderung all' des Vielen und Herrlichen, was <lb n="pvi_1262.035"/> es gibt, ist der erste Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer <lb n="pvi_1262.036"/> ursprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyrischen und Epischen in den <lb n="pvi_1262.037"/> ältesten erzählenden Liedern seine relative Richtigkeit; jenes war im Keime <lb n="pvi_1262.038"/> vorhanden, mußte dann diesem den Vortritt lassen, nahm aber, als es selbst <lb n="pvi_1262.039"/> an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einst <lb n="pvi_1262.040"/> neben dem Epischen geschlummert hatte, und gab ihr wirklich lyrische Gestalt; <lb n="pvi_1262.041"/> dieß wird an seinem Orte näher erklärt werden.</hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1262/0124]
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Hier ist nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu sagen, die pvi_1262.002
dem Lyrischen gegeben ist. Es scheint der Zeit und dem Begriffe nach, pvi_1262.003
oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr pvi_1262.004
das Erste zu sein, denn die Poesie ist die enge Nachbarinn der Musik, pvi_1262.005
kommt aus ihr und schickt sich an, aus der Jnnerlichkeit der Empfindung pvi_1262.006
die Welt der Objecte wieder zu erschließen und auszubreiten, ihr Wesen ist pvi_1262.007
die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyrische Ergießungen pvi_1262.008
der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die ersten pvi_1262.009
Aeußerungen der dichterischen Phantasie. Ein Jnteresse der bloßen logischen pvi_1262.010
Consequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzustellen, pvi_1262.011
wäre nur eine Verirrung der Abstraction und das System könnte ganz pvi_1262.012
ebensogut hier dem Subjectiven die erste Stelle anweisen, dann das Objective pvi_1262.013
aus ihm hervortreten lassen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe pvi_1262.014
der bildenden Künste umgekehrt die subjectivste unter ihnen, die Malerei, pvi_1262.015
als dritte, nicht als zweite gesetzt worden ist. Allein genauer betrachtet pvi_1262.016
verhält sich die Sache anders: die ältesten Lieder waren überall objectiven pvi_1262.017
Jnhalts, priesen Thaten der Götter und Menschen; freilich in lyrischem pvi_1262.018
Tone, und man kann insofern sagen, es liege hier eine noch unentwickelte pvi_1262.019
Einheit des Lyrischen und Epischen vor, allein es war keine Einheit, die pvi_1262.020
ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epische Element herrschte pvi_1262.021
und gestaltete sich zuerst weiter zu bestimmten Formen, zu Heldenliedern, pvi_1262.022
die dann zu Epen zusammenwuchsen, während das subjective, lyrische noch pvi_1262.023
lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entschiedene Form in das pvi_1262.024
Licht der Geschichte der Poesie herauszutreten, vielmehr die späte Reife der pvi_1262.025
Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Gemüthe pvi_1262.026
des Menschen erst die tiefere und reichere Resonanz gibt, ihm die pvi_1262.027
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Dichtung als stehendem Zweige soll die Rede sein können. Historisch und pvi_1262.029
psychologisch hat den Beweis für den Vorgang des Epischen Wackernagel pvi_1262.030
geführt (Schweiz. Mus. f. histor. Wissensch. „Die epische Poesie“ B. 1 u. 2). pvi_1262.031
Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet: pvi_1262.032
der ideale Weltgehalt erscheint dem Jndividuum, das noch nicht durch die pvi_1262.033
Arbeit der Bildung in sich zurückgetreten ist, als objectives Sein, Macht, pvi_1262.034
Geschichte. Kindliche Bewunderung all' des Vielen und Herrlichen, was pvi_1262.035
es gibt, ist der erste Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer pvi_1262.036
ursprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyrischen und Epischen in den pvi_1262.037
ältesten erzählenden Liedern seine relative Richtigkeit; jenes war im Keime pvi_1262.038
vorhanden, mußte dann diesem den Vortritt lassen, nahm aber, als es selbst pvi_1262.039
an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einst pvi_1262.040
neben dem Epischen geschlummert hatte, und gab ihr wirklich lyrische Gestalt; pvi_1262.041
dieß wird an seinem Orte näher erklärt werden.
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