Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1260.001 §. 863. pvi_1260.0361. Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auffassung pvi_1260.037
pvi_1260.001 §. 863. pvi_1260.0361. Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auffassung pvi_1260.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0122" n="1260"/><lb n="pvi_1260.001"/> sie so scharf und entschieden in keiner andern Kunst auftritt. Sie ist daher <lb n="pvi_1260.002"/> auch längst stehend und die Aesthetik hat hier nicht mehr das schwierige <lb n="pvi_1260.003"/> Geschäft der Entwirrung von Unterscheidungen, die im gewöhnlichen Bewußtsein <lb n="pvi_1260.004"/> dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantasie <lb n="pvi_1260.005"/> tritt nun also nothwendig zurück. Von einer besondern Richtung auf das <lb n="pvi_1260.006"/> Landschaftliche, Thierische kann ohnedieß nicht die Rede sein: wir haben <lb n="pvi_1260.007"/> gesehen, daß es mit dem Satze, der Jnhalt des Schönen sei im höchsten <lb n="pvi_1260.008"/> Sinne die Persönlichkeit, in der Poesie voller Ernst wird (§. 842). Der <lb n="pvi_1260.009"/> Mensch ist die wahre Aufgabe aller Kunst, und er ist es in der Poesie <lb n="pvi_1260.010"/> ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern <lb n="pvi_1260.011"/> Standpunct aufgefaßt und so verändert sich freilich, da die veränderte Auffassungsseite <lb n="pvi_1260.012"/> eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit sich bringt, <lb n="pvi_1260.013"/> jedesmal auch der Ausschnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos <lb n="pvi_1260.014"/> landschaftliches und thierisches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt, <lb n="pvi_1260.015"/> als das Drama. Es wird sich zeigen, daß dieser Unterschied der Umfassung <lb n="pvi_1260.016"/> des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenschliche oder die <lb n="pvi_1260.017"/> geschichtliche Richtung herrscht, und diese Arten der Richtung der Phantasie <lb n="pvi_1260.018"/> haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen gestellt, welche sich auf den Stoff <lb n="pvi_1260.019"/> beziehen, sie fallen aber, wo die Auffassung als solche entscheidend herrscht, <lb n="pvi_1260.020"/> natürlich an diese herüber. Dieß wird sich im Verlaufe näher erklären. <lb n="pvi_1260.021"/> Uebrigens mag die Dichtkunst den Weltstoff in kleinem oder großem Umfang <lb n="pvi_1260.022"/> aufnehmen, bezogen ist der Mensch immer auf die Natur und Alles rings <lb n="pvi_1260.023"/> um ihn, daher ist der Jnhalt der Poesie immer die ganze Welt; sie sieht <lb n="pvi_1260.024"/> vom Menschen aus die Welt. – Der veränderte Standpunct der Beleuchtung <lb n="pvi_1260.025"/> bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erstreckungsseite <lb n="pvi_1260.026"/> der <hi rendition="#g">Zeit</hi> mit sich: wir werden sehen, daß das Epos den Gegenstand <lb n="pvi_1260.027"/> unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyrischen <lb n="pvi_1260.028"/> Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegenwart, <lb n="pvi_1260.029"/> indem sie sich als Handlung entwickelt, sich gegen die Zukunft spannt. <lb n="pvi_1260.030"/> Es hat dieß zwar seine logischen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum <lb n="pvi_1260.031"/> Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Just. Fr. Richter (Vorsch. d. <lb n="pvi_1260.032"/> Aesth. §. 75), aber es steht im tiefsten Zusammenhange mit der Weise, wie <lb n="pvi_1260.033"/> das Jch des Dichters mit seinem Gegenstande sich durchdringt, und dieses <lb n="pvi_1260.034"/> Moment ist jetzt vor Allem bestimmter hervorzuheben.</hi> </p> <lb n="pvi_1260.035"/> <p> <hi rendition="#c">§. 863.</hi> </p> <lb n="pvi_1260.036"/> <note place="left">1.</note> <p> Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auffassung <lb n="pvi_1260.037"/> gründet, hat seinen tieferen Grund in dem Gesetze der Diremtion des <lb n="pvi_1260.038"/> <hi rendition="#g">Objectiven</hi> und <hi rendition="#g">Subjectiven</hi> und ihrer Zusammenfassung im <hi rendition="#g">Subjectiv- <lb n="pvi_1260.039"/> Objectiven</hi> (vergl. §. 537) und dieses tritt jetzt in seiner ganzen Bestimmtheit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1260/0122]
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sie so scharf und entschieden in keiner andern Kunst auftritt. Sie ist daher pvi_1260.002
auch längst stehend und die Aesthetik hat hier nicht mehr das schwierige pvi_1260.003
Geschäft der Entwirrung von Unterscheidungen, die im gewöhnlichen Bewußtsein pvi_1260.004
dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantasie pvi_1260.005
tritt nun also nothwendig zurück. Von einer besondern Richtung auf das pvi_1260.006
Landschaftliche, Thierische kann ohnedieß nicht die Rede sein: wir haben pvi_1260.007
gesehen, daß es mit dem Satze, der Jnhalt des Schönen sei im höchsten pvi_1260.008
Sinne die Persönlichkeit, in der Poesie voller Ernst wird (§. 842). Der pvi_1260.009
Mensch ist die wahre Aufgabe aller Kunst, und er ist es in der Poesie pvi_1260.010
ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern pvi_1260.011
Standpunct aufgefaßt und so verändert sich freilich, da die veränderte Auffassungsseite pvi_1260.012
eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit sich bringt, pvi_1260.013
jedesmal auch der Ausschnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos pvi_1260.014
landschaftliches und thierisches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt, pvi_1260.015
als das Drama. Es wird sich zeigen, daß dieser Unterschied der Umfassung pvi_1260.016
des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenschliche oder die pvi_1260.017
geschichtliche Richtung herrscht, und diese Arten der Richtung der Phantasie pvi_1260.018
haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen gestellt, welche sich auf den Stoff pvi_1260.019
beziehen, sie fallen aber, wo die Auffassung als solche entscheidend herrscht, pvi_1260.020
natürlich an diese herüber. Dieß wird sich im Verlaufe näher erklären. pvi_1260.021
Uebrigens mag die Dichtkunst den Weltstoff in kleinem oder großem Umfang pvi_1260.022
aufnehmen, bezogen ist der Mensch immer auf die Natur und Alles rings pvi_1260.023
um ihn, daher ist der Jnhalt der Poesie immer die ganze Welt; sie sieht pvi_1260.024
vom Menschen aus die Welt. – Der veränderte Standpunct der Beleuchtung pvi_1260.025
bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erstreckungsseite pvi_1260.026
der Zeit mit sich: wir werden sehen, daß das Epos den Gegenstand pvi_1260.027
unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyrischen pvi_1260.028
Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegenwart, pvi_1260.029
indem sie sich als Handlung entwickelt, sich gegen die Zukunft spannt. pvi_1260.030
Es hat dieß zwar seine logischen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum pvi_1260.031
Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Just. Fr. Richter (Vorsch. d. pvi_1260.032
Aesth. §. 75), aber es steht im tiefsten Zusammenhange mit der Weise, wie pvi_1260.033
das Jch des Dichters mit seinem Gegenstande sich durchdringt, und dieses pvi_1260.034
Moment ist jetzt vor Allem bestimmter hervorzuheben.
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§. 863.
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Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auffassung pvi_1260.037
gründet, hat seinen tieferen Grund in dem Gesetze der Diremtion des pvi_1260.038
Objectiven und Subjectiven und ihrer Zusammenfassung im Subjectiv- pvi_1260.039
Objectiven (vergl. §. 537) und dieses tritt jetzt in seiner ganzen Bestimmtheit
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