Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1246.001 §. 859. pvi_1246.023Der allgemeine Gegensatz der Style, der alles Kunstleben beherrscht, pvi_1246.024 Die alt=orientalische Poesie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik. pvi_1246.038
pvi_1246.001 §. 859. pvi_1246.023Der allgemeine Gegensatz der Style, der alles Kunstleben beherrscht, pvi_1246.024 Die alt=orientalische Poesie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik. pvi_1246.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0108" n="1246"/><lb n="pvi_1246.001"/> war zugleich Kampf gegen diesen Sprachgesang und die Prosa der <lb n="pvi_1246.002"/> Rede, in die man sich warf, um die Naturwahrheit zu retten, diente dem <lb n="pvi_1246.003"/> Mimen als Anhalt, die Modulation der wahren Töne der Empfindung <lb n="pvi_1246.004"/> zu ihrem Rechte zu bringen. Nun aber riß der Naturalismus ein, und <lb n="pvi_1246.005"/> als man in zurückgekehrter Erkenntniß der Würde der Poesie den Jamben <lb n="pvi_1246.006"/> einführte, zeigte sich, daß die Schauspieler nicht mehr rhythmisch hören <lb n="pvi_1246.007"/> und sprechen konnten, so daß Göthe eine bedeutende Schauspielerinn in der <lb n="pvi_1246.008"/> Probe am Arme nahm und auf- und abgehend das Jamben-Maaß mit ihr <lb n="pvi_1246.009"/> stampfte. – Was von der Declamation gilt, gilt auch vom Lesen als <lb n="pvi_1246.010"/> einem inneren Sprechen, nur natürlich in schwächerem Maaße. Das Band, <lb n="pvi_1246.011"/> das die Poesie an die unmittelbare Sinnlichkeit knüpft, ist immer dünner, <lb n="pvi_1246.012"/> blasser geworden, sie hat die Musik, den Tanz verloren, endlich ist sie nicht <lb n="pvi_1246.013"/> nur vom Singen auf das Sagen, sondern sogar in das Lesezimmer zurückgedrängt <lb n="pvi_1246.014"/> worden. Diese Entsinnlichung hat nach der einen Seite ihren <lb n="pvi_1246.015"/> Grund in dem Gesammten unserer Bildung und es hieße gegen eine Welt <lb n="pvi_1246.016"/> von Erquickung im stillen Kämmerlein predigen, wenn man dagegen eiferte. <lb n="pvi_1246.017"/> Dennoch lebt ein Gedicht nur halb und verstümmelt, wenn es blos gelesen, <lb n="pvi_1246.018"/> nicht wenigstens vorgelesen wird. Entschieden hat die Berechnung auf das <lb n="pvi_1246.019"/> bloße Lesen der dramatischen Literatur geschadet. Das Aufkommen der Lese= <lb n="pvi_1246.020"/> Dramen hat den Sinn für das, was Handlung ist, was lebt, wirkt, fortschreitet <lb n="pvi_1246.021"/> und packt, fast ertödtet.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1246.022"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 859.</hi> </p> <lb n="pvi_1246.023"/> <p> Der allgemeine <hi rendition="#g">Gegensatz der Style,</hi> der alles Kunstleben beherrscht, <lb n="pvi_1246.024"/> ist mit besonderer Bestimmtheit in der Rhythmik zur Erscheinung gekommen. <lb n="pvi_1246.025"/> Die orientalische Dichtung ist auf diesem Gebiete ganz in den Grenzen einer <lb n="pvi_1246.026"/> unreifen Vorstufe stehen geblieben; dagegen tritt der <hi rendition="#g">direct idealisirende <lb n="pvi_1246.027"/> plastische</hi> Styl des classischen Jdeals in vollendeter Gestalt bei den Griechen <lb n="pvi_1246.028"/> auf. Zu Grunde liegt ein System von Takt-Arten, das in seiner Anwendung <lb n="pvi_1246.029"/> auf die rein <hi rendition="#g">quantitirende</hi> Sprache sich mit dem Prinzip der Länge und <lb n="pvi_1246.030"/> Kürze, den Wortaccent opfernd, in reiner Gesetzmäßigkeit verbindet, indem es <lb n="pvi_1246.031"/> vermittelst des Vorschlags (Anakruse) die verschiedenen Metra mit ihrem verschiedenen <lb n="pvi_1246.032"/> Charakter als eine feste Kunstordnung schafft, worein sich der Sprachkörper <lb n="pvi_1246.033"/> mit dem Naturgesetze seiner Prosodie einfügt. Es entsteht so eine <lb n="pvi_1246.034"/> selbständige Welt organischer formaler Schönheit, welche zugleich mit der Musik <lb n="pvi_1246.035"/> lebendig vereinigt bleibt und die kunstreicher verschlungenen Strophen durch den <lb n="pvi_1246.036"/> Tanz auch dem Auge als räumliche Figur vorzeichnet.</p> <lb n="pvi_1246.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Die alt=orientalische Poesie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik. <lb n="pvi_1246.038"/> Jn der alt=persischen und indischen Dichtkunst werden die Sylben nur gezählt </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1246/0108]
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war zugleich Kampf gegen diesen Sprachgesang und die Prosa der pvi_1246.002
Rede, in die man sich warf, um die Naturwahrheit zu retten, diente dem pvi_1246.003
Mimen als Anhalt, die Modulation der wahren Töne der Empfindung pvi_1246.004
zu ihrem Rechte zu bringen. Nun aber riß der Naturalismus ein, und pvi_1246.005
als man in zurückgekehrter Erkenntniß der Würde der Poesie den Jamben pvi_1246.006
einführte, zeigte sich, daß die Schauspieler nicht mehr rhythmisch hören pvi_1246.007
und sprechen konnten, so daß Göthe eine bedeutende Schauspielerinn in der pvi_1246.008
Probe am Arme nahm und auf- und abgehend das Jamben-Maaß mit ihr pvi_1246.009
stampfte. – Was von der Declamation gilt, gilt auch vom Lesen als pvi_1246.010
einem inneren Sprechen, nur natürlich in schwächerem Maaße. Das Band, pvi_1246.011
das die Poesie an die unmittelbare Sinnlichkeit knüpft, ist immer dünner, pvi_1246.012
blasser geworden, sie hat die Musik, den Tanz verloren, endlich ist sie nicht pvi_1246.013
nur vom Singen auf das Sagen, sondern sogar in das Lesezimmer zurückgedrängt pvi_1246.014
worden. Diese Entsinnlichung hat nach der einen Seite ihren pvi_1246.015
Grund in dem Gesammten unserer Bildung und es hieße gegen eine Welt pvi_1246.016
von Erquickung im stillen Kämmerlein predigen, wenn man dagegen eiferte. pvi_1246.017
Dennoch lebt ein Gedicht nur halb und verstümmelt, wenn es blos gelesen, pvi_1246.018
nicht wenigstens vorgelesen wird. Entschieden hat die Berechnung auf das pvi_1246.019
bloße Lesen der dramatischen Literatur geschadet. Das Aufkommen der Lese= pvi_1246.020
Dramen hat den Sinn für das, was Handlung ist, was lebt, wirkt, fortschreitet pvi_1246.021
und packt, fast ertödtet.
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§. 859.
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Der allgemeine Gegensatz der Style, der alles Kunstleben beherrscht, pvi_1246.024
ist mit besonderer Bestimmtheit in der Rhythmik zur Erscheinung gekommen. pvi_1246.025
Die orientalische Dichtung ist auf diesem Gebiete ganz in den Grenzen einer pvi_1246.026
unreifen Vorstufe stehen geblieben; dagegen tritt der direct idealisirende pvi_1246.027
plastische Styl des classischen Jdeals in vollendeter Gestalt bei den Griechen pvi_1246.028
auf. Zu Grunde liegt ein System von Takt-Arten, das in seiner Anwendung pvi_1246.029
auf die rein quantitirende Sprache sich mit dem Prinzip der Länge und pvi_1246.030
Kürze, den Wortaccent opfernd, in reiner Gesetzmäßigkeit verbindet, indem es pvi_1246.031
vermittelst des Vorschlags (Anakruse) die verschiedenen Metra mit ihrem verschiedenen pvi_1246.032
Charakter als eine feste Kunstordnung schafft, worein sich der Sprachkörper pvi_1246.033
mit dem Naturgesetze seiner Prosodie einfügt. Es entsteht so eine pvi_1246.034
selbständige Welt organischer formaler Schönheit, welche zugleich mit der Musik pvi_1246.035
lebendig vereinigt bleibt und die kunstreicher verschlungenen Strophen durch den pvi_1246.036
Tanz auch dem Auge als räumliche Figur vorzeichnet.
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Die alt=orientalische Poesie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik. pvi_1246.038
Jn der alt=persischen und indischen Dichtkunst werden die Sylben nur gezählt
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