"Die E sind eigentlich so zu sprechen wie in Flexionssylben, mit dem Nebenlaut eines dumpfen, halb nasalen A."
"Nun ja, meinetwegen, also?"
"Der Tetem ist unser zweiter Stadtgeistlicher, ein hochbeliebter Kanzelredner. Er heißt eigentlich Zunger. Er ist freisinniger Theolog. A. E. kannte ihn gut, er unterhielt sich gern mit ihm, denn er ist ein huma¬ nistisch wohlgebildeter Mann. Allein das Verhältniß wechselte zwischen Anziehung und Abstoßung. A. E. hatte dieser Schattirung im geistlichen Stande gegen¬ über statt Eines Standpunkts zwei, die sich schwer vereinigen ließen und, wie es in solchen Fällen geht, wechselsweise die Oberhand bekamen. Mit seiner schwert¬ scharfen Logik erkannte er leicht die Inkonsequenz, bis zu gewissen Grenzmarken der modernen Wissenschaft ihr Recht einzuräumen, an diesen Stellen aber ihr Halt zu gebieten oder mit schönen Redensarten sich und Anderen Einklang zwischen ihr und dem Dogma vorzutäuschen; "überdieß," so pflegte er zu sagen, "sind sie eben doch Heuchler auf alle Fälle, denn auch die Glaubensstücke, die sie offen für unhaltbar erklären, müssen sie in Gottesdienst und Seelsorge trotzdem jederzeit im Munde führen; was hilft da die Hinterthüre des symbolischen Sinnes? Unwahr ist und bleibt unwahr." Dazu kam, daß Zunger immerhin auch ein Geschmäck¬ chen von Wohlweisheit hat. Er ermahnt gern, gibt gern
„Die E ſind eigentlich ſo zu ſprechen wie in Flexionsſylben, mit dem Nebenlaut eines dumpfen, halb naſalen A.“
„Nun ja, meinetwegen, alſo?“
„Der Tetem iſt unſer zweiter Stadtgeiſtlicher, ein hochbeliebter Kanzelredner. Er heißt eigentlich Zunger. Er iſt freiſinniger Theolog. A. E. kannte ihn gut, er unterhielt ſich gern mit ihm, denn er iſt ein huma¬ niſtiſch wohlgebildeter Mann. Allein das Verhältniß wechſelte zwiſchen Anziehung und Abſtoßung. A. E. hatte dieſer Schattirung im geiſtlichen Stande gegen¬ über ſtatt Eines Standpunkts zwei, die ſich ſchwer vereinigen ließen und, wie es in ſolchen Fällen geht, wechſelsweiſe die Oberhand bekamen. Mit ſeiner ſchwert¬ ſcharfen Logik erkannte er leicht die Inkonſequenz, bis zu gewiſſen Grenzmarken der modernen Wiſſenſchaft ihr Recht einzuräumen, an dieſen Stellen aber ihr Halt zu gebieten oder mit ſchönen Redensarten ſich und Anderen Einklang zwiſchen ihr und dem Dogma vorzutäuſchen; „überdieß,“ ſo pflegte er zu ſagen, „ſind ſie eben doch Heuchler auf alle Fälle, denn auch die Glaubensſtücke, die ſie offen für unhaltbar erklären, müſſen ſie in Gottesdienſt und Seelſorge trotzdem jederzeit im Munde führen; was hilft da die Hinterthüre des ſymboliſchen Sinnes? Unwahr iſt und bleibt unwahr.“ Dazu kam, daß Zunger immerhin auch ein Geſchmäck¬ chen von Wohlweisheit hat. Er ermahnt gern, gibt gern
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[37/0050]
„Die E ſind eigentlich ſo zu ſprechen wie in
Flexionsſylben, mit dem Nebenlaut eines dumpfen, halb
naſalen A.“
„Nun ja, meinetwegen, alſo?“
„Der Tetem iſt unſer zweiter Stadtgeiſtlicher, ein
hochbeliebter Kanzelredner. Er heißt eigentlich Zunger.
Er iſt freiſinniger Theolog. A. E. kannte ihn gut,
er unterhielt ſich gern mit ihm, denn er iſt ein huma¬
niſtiſch wohlgebildeter Mann. Allein das Verhältniß
wechſelte zwiſchen Anziehung und Abſtoßung. A. E.
hatte dieſer Schattirung im geiſtlichen Stande gegen¬
über ſtatt Eines Standpunkts zwei, die ſich ſchwer
vereinigen ließen und, wie es in ſolchen Fällen geht,
wechſelsweiſe die Oberhand bekamen. Mit ſeiner ſchwert¬
ſcharfen Logik erkannte er leicht die Inkonſequenz, bis
zu gewiſſen Grenzmarken der modernen Wiſſenſchaft
ihr Recht einzuräumen, an dieſen Stellen aber ihr
Halt zu gebieten oder mit ſchönen Redensarten ſich
und Anderen Einklang zwiſchen ihr und dem Dogma
vorzutäuſchen; „überdieß,“ ſo pflegte er zu ſagen, „ſind
ſie eben doch Heuchler auf alle Fälle, denn auch die
Glaubensſtücke, die ſie offen für unhaltbar erklären,
müſſen ſie in Gottesdienſt und Seelſorge trotzdem jederzeit
im Munde führen; was hilft da die Hinterthüre des
ſymboliſchen Sinnes? Unwahr iſt und bleibt unwahr.“
Dazu kam, daß Zunger immerhin auch ein Geſchmäck¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/50>, abgerufen am 21.11.2024.
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