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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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Rhythmik oder eigentlich der idealen Nervenlehre. Fort¬
schwingen des rhythmusfühlenden Nervs. -- Da liegt die
Abschrift des Schreibens vor mir, die ich mir zum An¬
denken genommen habe, -- Erinnerung an alte Zeiten.


Nachts hatte ich dann einen recht kindischen Traum.
Ich kam in ein besseres, beglücktes Land, Wohnsitz
hochgestimmter Menschen. Hier wurden alle amtlichen
Schreiben, Regierungs- und Behördenerlasse, Reskripte,
Ausschreiben, Gesetzurkunden, Protokolle, all' Dieses
und Aehnliches in Versen abgefaßt und zwar stets in
einem zum Inhalt passenden Metrum. Einen Staats¬
anwalt hörte ich im Geschwornengericht die Anklage
gegen einen Mörder in centnerschweren kurzen Stab¬
reimen vortragen. Das Protokoll über den Thatbestand
erklang fürchterlich im Versmaß des Eumenidenchors
des Aeschylos. Der Vertheidiger suchte in weichen
sapphoartigen Strophen zu rühren. Das Strafgesetz
bestand in lastenden Trochäen. Das Dienstreglement
für meine Polizeimannschaft bewegte sich in gemessenen
Dantesken Terzinen. Ein Gesuch um Freinacht bei
Anlaß einer Hochzeit gewährte ich in hüpfenden Ana¬
pästen und Daktylen und gieng gegen den Schluß in
Zeilen über, die in freiem Spiele zwischen gebundener
und ungebundener Form dithyrambisch schwebten. Dafür
aber bekam ich einen Verweis von der Kreisregierung

Rhythmik oder eigentlich der idealen Nervenlehre. Fort¬
ſchwingen des rhythmusfühlenden Nervs. — Da liegt die
Abſchrift des Schreibens vor mir, die ich mir zum An¬
denken genommen habe, — Erinnerung an alte Zeiten.


Nachts hatte ich dann einen recht kindiſchen Traum.
Ich kam in ein beſſeres, beglücktes Land, Wohnſitz
hochgeſtimmter Menſchen. Hier wurden alle amtlichen
Schreiben, Regierungs- und Behördenerlaſſe, Reſkripte,
Ausſchreiben, Geſetzurkunden, Protokolle, all' Dieſes
und Aehnliches in Verſen abgefaßt und zwar ſtets in
einem zum Inhalt paſſenden Metrum. Einen Staats¬
anwalt hörte ich im Geſchwornengericht die Anklage
gegen einen Mörder in centnerſchweren kurzen Stab¬
reimen vortragen. Das Protokoll über den Thatbeſtand
erklang fürchterlich im Versmaß des Eumenidenchors
des Aeſchylos. Der Vertheidiger ſuchte in weichen
ſapphoartigen Strophen zu rühren. Das Strafgeſetz
beſtand in laſtenden Trochäen. Das Dienſtreglement
für meine Polizeimannſchaft bewegte ſich in gemeſſenen
Dantesken Terzinen. Ein Geſuch um Freinacht bei
Anlaß einer Hochzeit gewährte ich in hüpfenden Ana¬
päſten und Daktylen und gieng gegen den Schluß in
Zeilen über, die in freiem Spiele zwiſchen gebundener
und ungebundener Form dithyrambiſch ſchwebten. Dafür
aber bekam ich einen Verweis von der Kreisregierung

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[374/0387] Rhythmik oder eigentlich der idealen Nervenlehre. Fort¬ ſchwingen des rhythmusfühlenden Nervs. — Da liegt die Abſchrift des Schreibens vor mir, die ich mir zum An¬ denken genommen habe, — Erinnerung an alte Zeiten. Nachts hatte ich dann einen recht kindiſchen Traum. Ich kam in ein beſſeres, beglücktes Land, Wohnſitz hochgeſtimmter Menſchen. Hier wurden alle amtlichen Schreiben, Regierungs- und Behördenerlaſſe, Reſkripte, Ausſchreiben, Geſetzurkunden, Protokolle, all' Dieſes und Aehnliches in Verſen abgefaßt und zwar ſtets in einem zum Inhalt paſſenden Metrum. Einen Staats¬ anwalt hörte ich im Geſchwornengericht die Anklage gegen einen Mörder in centnerſchweren kurzen Stab¬ reimen vortragen. Das Protokoll über den Thatbeſtand erklang fürchterlich im Versmaß des Eumenidenchors des Aeſchylos. Der Vertheidiger ſuchte in weichen ſapphoartigen Strophen zu rühren. Das Strafgeſetz beſtand in laſtenden Trochäen. Das Dienſtreglement für meine Polizeimannſchaft bewegte ſich in gemeſſenen Dantesken Terzinen. Ein Geſuch um Freinacht bei Anlaß einer Hochzeit gewährte ich in hüpfenden Ana¬ päſten und Daktylen und gieng gegen den Schluß in Zeilen über, die in freiem Spiele zwiſchen gebundener und ungebundener Form dithyrambiſch ſchwebten. Dafür aber bekam ich einen Verweis von der Kreisregierung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/387>, abgerufen am 22.11.2024.