Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

eigentliche Bagatell, das nicht des Nennens werth ist.
Wer von jenem Werthe durchdrungen ist und doch
geduldig bleibt: gut, recht, er soll ein Engel sein.
So lang ich aber nicht sonst Proben habe, daß Einer
engelgleich ist, bin ich so frei, zu glauben, daß er den
Kampf mit dem Bagatell nur darum leicht nimmt,
weil er grobe Nerven hat oder nicht vergleicht, nicht
rechnet. Rechnen wir nur sehr schwach: per Tag
11/2 Stunden für An- und Auskleiden und der¬
gleichen, hiezu nur 3/4 Stunden für speziellen Kampf
mit Knöpfen und Anverwandten: macht per Woche
1053/4 Stunden.*) Nehmen wir hinzu, daß nur
Einmal wöchentlich noch speziellere und ganz tragische
Kämpfe sich ereignen, wie verzweifeltes Suchen eines
Blatts, einer Notiz, und bedenken wir, das ein solcher
Vorgang das Hirn, das ganze Nervenleben in eine
ähnliche Betäubung versetzt, wie Verirren Nachts im
Walde, also für einen ganzen Vormittag arbeits¬
unfähig macht, thut 6 Stunden: Summa in der
Woche 10563/4, Stunden: welche Zahl!*)


Was ich nicht aushalten kann, das ist ein Mensch
ohne Leidenschaft, und ein Mensch, der gemeine Leiden¬
schaften hat.


* ) Sie! Anm. d. Herausg.

eigentliche Bagatell, das nicht des Nennens werth iſt.
Wer von jenem Werthe durchdrungen iſt und doch
geduldig bleibt: gut, recht, er ſoll ein Engel ſein.
So lang ich aber nicht ſonſt Proben habe, daß Einer
engelgleich iſt, bin ich ſo frei, zu glauben, daß er den
Kampf mit dem Bagatell nur darum leicht nimmt,
weil er grobe Nerven hat oder nicht vergleicht, nicht
rechnet. Rechnen wir nur ſehr ſchwach: per Tag
1½ Stunden für An- und Auskleiden und der¬
gleichen, hiezu nur ¾ Stunden für ſpeziellen Kampf
mit Knöpfen und Anverwandten: macht per Woche
105¾ Stunden.*) Nehmen wir hinzu, daß nur
Einmal wöchentlich noch ſpeziellere und ganz tragiſche
Kämpfe ſich ereignen, wie verzweifeltes Suchen eines
Blatts, einer Notiz, und bedenken wir, das ein ſolcher
Vorgang das Hirn, das ganze Nervenleben in eine
ähnliche Betäubung verſetzt, wie Verirren Nachts im
Walde, alſo für einen ganzen Vormittag arbeits¬
unfähig macht, thut 6 Stunden: Summa in der
Woche 1056¾, Stunden: welche Zahl!*)


Was ich nicht aushalten kann, das iſt ein Menſch
ohne Leidenſchaft, und ein Menſch, der gemeine Leiden¬
ſchaften hat.


* ) Sie! Anm. d. Herausg.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0381" n="368"/>
eigentliche Bagatell, das nicht des Nennens werth i&#x017F;t.<lb/>
Wer von jenem Werthe durchdrungen i&#x017F;t und doch<lb/>
geduldig bleibt: gut, recht, er &#x017F;oll ein Engel &#x017F;ein.<lb/>
So lang ich aber nicht &#x017F;on&#x017F;t Proben habe, daß Einer<lb/>
engelgleich i&#x017F;t, bin ich &#x017F;o frei, zu glauben, daß er den<lb/>
Kampf mit dem Bagatell nur darum leicht nimmt,<lb/>
weil er grobe Nerven hat oder nicht vergleicht, nicht<lb/>
rechnet. Rechnen wir nur &#x017F;ehr &#x017F;chwach: per Tag<lb/>
1½ Stunden für An- und Auskleiden und der¬<lb/>
gleichen, hiezu nur ¾ Stunden für &#x017F;peziellen Kampf<lb/>
mit Knöpfen und Anverwandten: macht per Woche<lb/>
105¾ Stunden.<note place="foot" n="*"><lb/>
) <hi rendition="#aq">Sie!</hi> Anm. d. Herausg.</note>) Nehmen wir hinzu, daß nur<lb/>
Einmal wöchentlich noch &#x017F;peziellere und ganz tragi&#x017F;che<lb/>
Kämpfe &#x017F;ich ereignen, wie verzweifeltes Suchen eines<lb/>
Blatts, einer Notiz, und bedenken wir, das ein &#x017F;olcher<lb/>
Vorgang das Hirn, das ganze Nervenleben in eine<lb/>
ähnliche Betäubung ver&#x017F;etzt, wie Verirren Nachts im<lb/>
Walde, al&#x017F;o für einen ganzen Vormittag arbeits¬<lb/>
unfähig macht, thut 6 Stunden: Summa in der<lb/>
Woche 1056¾, Stunden: welche Zahl!*)</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Was ich nicht aushalten kann, das i&#x017F;t ein Men&#x017F;ch<lb/>
ohne Leiden&#x017F;chaft, und ein Men&#x017F;ch, der gemeine Leiden¬<lb/>
&#x017F;chaften hat.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[368/0381] eigentliche Bagatell, das nicht des Nennens werth iſt. Wer von jenem Werthe durchdrungen iſt und doch geduldig bleibt: gut, recht, er ſoll ein Engel ſein. So lang ich aber nicht ſonſt Proben habe, daß Einer engelgleich iſt, bin ich ſo frei, zu glauben, daß er den Kampf mit dem Bagatell nur darum leicht nimmt, weil er grobe Nerven hat oder nicht vergleicht, nicht rechnet. Rechnen wir nur ſehr ſchwach: per Tag 1½ Stunden für An- und Auskleiden und der¬ gleichen, hiezu nur ¾ Stunden für ſpeziellen Kampf mit Knöpfen und Anverwandten: macht per Woche 105¾ Stunden. *) Nehmen wir hinzu, daß nur Einmal wöchentlich noch ſpeziellere und ganz tragiſche Kämpfe ſich ereignen, wie verzweifeltes Suchen eines Blatts, einer Notiz, und bedenken wir, das ein ſolcher Vorgang das Hirn, das ganze Nervenleben in eine ähnliche Betäubung verſetzt, wie Verirren Nachts im Walde, alſo für einen ganzen Vormittag arbeits¬ unfähig macht, thut 6 Stunden: Summa in der Woche 1056¾, Stunden: welche Zahl!*) Was ich nicht aushalten kann, das iſt ein Menſch ohne Leidenſchaft, und ein Menſch, der gemeine Leiden¬ ſchaften hat. * ) Sie! Anm. d. Herausg.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/381
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/381>, abgerufen am 25.11.2024.