auf unsinnig konstruirten Sesseln, in wahnsinnig ge¬ polsterten Coupes sitzen. Reisen heißt schamlos wohnen, in Gasthöfen nämlich, wo überall die Zimmer nur durch eine dünne Thüre vom Nachbarzimmer getrennt sind; der hört also jeden Laut und die Folge ist, daß man nothwendig meinen muß, er sehe Einen auch, zum Beispiel nackt beim Hemdwechsel; reisen heißt mit absurden Menschen sein müssen, wenn man einsam sein will, am meisten, wenn man mit der keuschen Natur andächtig verkehren möchte, dagegen einsam sein, wenn man sich nach Menschen sehnt; reisen heißt ewig packen müssen, und ein Fürst hat es nur scheinbar besser, ihm besorgt die Sache sein Marschall durch die Bedienten, aber wer besorgt ihm seinen Marschall und wer besorgt ihm, daß er nicht besorgt, sein Marschall besorge es ihm nicht recht? Dennoch muß man reisen, denn der Schund stärkt den Charakter. Und übrigens nachher vergißt man all die Noth und eine Welt neuer An¬ schauungen -- wenn anders man zu schauen wußte -- bleibt. -- Nebenher auch Argument gegen den Pessimismus.
Eine Art zu reisen, ja, die ist Genuß an sich, wohl der reinste Lebensgenuß, vorausgesetzt gut Wetter, gute, wohlausgetretene Schuhe und kein Hühnerauge; eine Fußreise ohne Begleiter außer einem Hund. Nur ja
auf unſinnig konſtruirten Seſſeln, in wahnſinnig ge¬ polſterten Coupés ſitzen. Reiſen heißt ſchamlos wohnen, in Gaſthöfen nämlich, wo überall die Zimmer nur durch eine dünne Thüre vom Nachbarzimmer getrennt ſind; der hört alſo jeden Laut und die Folge iſt, daß man nothwendig meinen muß, er ſehe Einen auch, zum Beiſpiel nackt beim Hemdwechſel; reiſen heißt mit abſurden Menſchen ſein müſſen, wenn man einſam ſein will, am meiſten, wenn man mit der keuſchen Natur andächtig verkehren möchte, dagegen einſam ſein, wenn man ſich nach Menſchen ſehnt; reiſen heißt ewig packen müſſen, und ein Fürſt hat es nur ſcheinbar beſſer, ihm beſorgt die Sache ſein Marſchall durch die Bedienten, aber wer beſorgt ihm ſeinen Marſchall und wer beſorgt ihm, daß er nicht beſorgt, ſein Marſchall beſorge es ihm nicht recht? Dennoch muß man reiſen, denn der Schund ſtärkt den Charakter. Und übrigens nachher vergißt man all die Noth und eine Welt neuer An¬ ſchauungen — wenn anders man zu ſchauen wußte — bleibt. — Nebenher auch Argument gegen den Peſſimismus.
Eine Art zu reiſen, ja, die iſt Genuß an ſich, wohl der reinſte Lebensgenuß, vorausgeſetzt gut Wetter, gute, wohlausgetretene Schuhe und kein Hühnerauge; eine Fußreiſe ohne Begleiter außer einem Hund. Nur ja
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auf unſinnig konſtruirten Seſſeln, in wahnſinnig ge¬
polſterten Coupés ſitzen. Reiſen heißt ſchamlos wohnen,
in Gaſthöfen nämlich, wo überall die Zimmer nur
durch eine dünne Thüre vom Nachbarzimmer getrennt
ſind; der hört alſo jeden Laut und die Folge iſt, daß
man nothwendig meinen muß, er ſehe Einen auch,
zum Beiſpiel nackt beim Hemdwechſel; reiſen heißt mit
abſurden Menſchen ſein müſſen, wenn man einſam ſein
will, am meiſten, wenn man mit der keuſchen Natur
andächtig verkehren möchte, dagegen einſam ſein, wenn
man ſich nach Menſchen ſehnt; reiſen heißt ewig packen
müſſen, und ein Fürſt hat es nur ſcheinbar beſſer, ihm
beſorgt die Sache ſein Marſchall durch die Bedienten,
aber wer beſorgt ihm ſeinen Marſchall und wer beſorgt
ihm, daß er nicht beſorgt, ſein Marſchall beſorge es
ihm nicht recht? Dennoch muß man reiſen, denn der
Schund ſtärkt den Charakter. Und übrigens nachher
vergißt man all die Noth und eine Welt neuer An¬
ſchauungen — wenn anders man zu ſchauen wußte
— bleibt. — Nebenher auch Argument gegen den
Peſſimismus.
Eine Art zu reiſen, ja, die iſt Genuß an ſich, wohl
der reinſte Lebensgenuß, vorausgeſetzt gut Wetter, gute,
wohlausgetretene Schuhe und kein Hühnerauge; eine
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/355>, abgerufen am 22.11.2024.
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