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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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dir gespannt zu, so scheint es. Auf einmal fangen
seine Augensterne an, zu fappeln, zu irren, er hört
nach einer andern Seite. Die Gedanken auch nur
fünf Minuten beisammenbehalten -- es wäre ja ent¬
setzlich, nicht zu ertragen! O, dieß Geschlecht kann nur
unter der Fuchtel des Unteroffiziers aufmerken, und
darunter gehört es auch. -- Unter den Künsten zwingt
die Musik am wenigsten, die Gedanken zusammen¬
zuhalten, darum ist die Mehrzahl musikliebend. Alle
Menschen sind eigentlich Wiener.


Muß jetzt auch mehr in vornehme Gesellschaft --
-- Was ich doch mit der Form auf gespanntem Fuße
stehe! Ich respektire sie eigentlich, ja freue mich an
ihr, weiß jedenfalls ganz gut, wie nothwendig sie ist.
Dazwischen aber habe ich Stunden, wo ich einem
ungeheuren Reiz nicht widerstehen kann, sie vor den
Kopf zu stoßen, ihr auf's Muthwilligste zu zeigen,
daß ich sie als geistlos verachte, weil sie doch gar so
viel Irrationelles enthält und so äußerst zahm ist.
Auch Stunden, wo ich zwar ganz zahm, aber durch¬
aus besinnungslos bin in Beziehung auf sie und
Dummheiten, Vergessenheiten begehe, die unglaublich
sind. Etwas von einer solchen Natur ist in Goethe's
"Tasso" idealisirt. Der Dichter selbst, in der Lage
wie sein Tasso, hat sich durch die Angewöhnung einer

dir geſpannt zu, ſo ſcheint es. Auf einmal fangen
ſeine Augenſterne an, zu fappeln, zu irren, er hört
nach einer andern Seite. Die Gedanken auch nur
fünf Minuten beiſammenbehalten — es wäre ja ent¬
ſetzlich, nicht zu ertragen! O, dieß Geſchlecht kann nur
unter der Fuchtel des Unteroffiziers aufmerken, und
darunter gehört es auch. — Unter den Künſten zwingt
die Muſik am wenigſten, die Gedanken zuſammen¬
zuhalten, darum iſt die Mehrzahl muſikliebend. Alle
Menſchen ſind eigentlich Wiener.


Muß jetzt auch mehr in vornehme Geſellſchaft —
— Was ich doch mit der Form auf geſpanntem Fuße
ſtehe! Ich reſpektire ſie eigentlich, ja freue mich an
ihr, weiß jedenfalls ganz gut, wie nothwendig ſie iſt.
Dazwiſchen aber habe ich Stunden, wo ich einem
ungeheuren Reiz nicht widerſtehen kann, ſie vor den
Kopf zu ſtoßen, ihr auf's Muthwilligſte zu zeigen,
daß ich ſie als geiſtlos verachte, weil ſie doch gar ſo
viel Irrationelles enthält und ſo äußerſt zahm iſt.
Auch Stunden, wo ich zwar ganz zahm, aber durch¬
aus beſinnungslos bin in Beziehung auf ſie und
Dummheiten, Vergeſſenheiten begehe, die unglaublich
ſind. Etwas von einer ſolchen Natur iſt in Goethe's
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[299/0312] dir geſpannt zu, ſo ſcheint es. Auf einmal fangen ſeine Augenſterne an, zu fappeln, zu irren, er hört nach einer andern Seite. Die Gedanken auch nur fünf Minuten beiſammenbehalten — es wäre ja ent¬ ſetzlich, nicht zu ertragen! O, dieß Geſchlecht kann nur unter der Fuchtel des Unteroffiziers aufmerken, und darunter gehört es auch. — Unter den Künſten zwingt die Muſik am wenigſten, die Gedanken zuſammen¬ zuhalten, darum iſt die Mehrzahl muſikliebend. Alle Menſchen ſind eigentlich Wiener. Muß jetzt auch mehr in vornehme Geſellſchaft — — Was ich doch mit der Form auf geſpanntem Fuße ſtehe! Ich reſpektire ſie eigentlich, ja freue mich an ihr, weiß jedenfalls ganz gut, wie nothwendig ſie iſt. Dazwiſchen aber habe ich Stunden, wo ich einem ungeheuren Reiz nicht widerſtehen kann, ſie vor den Kopf zu ſtoßen, ihr auf's Muthwilligſte zu zeigen, daß ich ſie als geiſtlos verachte, weil ſie doch gar ſo viel Irrationelles enthält und ſo äußerſt zahm iſt. Auch Stunden, wo ich zwar ganz zahm, aber durch¬ aus beſinnungslos bin in Beziehung auf ſie und Dummheiten, Vergeſſenheiten begehe, die unglaublich ſind. Etwas von einer ſolchen Natur iſt in Goethe's „Taſſo“ idealiſirt. Der Dichter ſelbſt, in der Lage wie ſein Taſſo, hat ſich durch die Angewöhnung einer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/312>, abgerufen am 24.11.2024.