"ich zeige dir Anadyomene." Wie magnetisch zieht sie mich, schwebt mit mir über Gebirge, Meere, der Himmel wird tiefer blau, Inseln schwimmen, rein ge¬ zeichnet, in Azur getaucht; ein Vorgebirge steigt auf, eine Landzunge in's Meer vorgelagert; "hier ist Kni¬ dos," spricht die geisterleichte Trägerin, läßt mich vor einer Tempelhalle nieder, ich trete ein und da steht sie, die Gewänderablegende, -- leuchtend, das Höchste, was kunstgewordene Natur erschaffen kann. Schauen will ich, spricht's in mir, und fern bleiben. Da seh' ich Lebenswärme durch den Marmor rieseln, das Ant¬ litz färbt sich, das Haar wird Gold und ich erkenne Goldrun. Sie regt sich, winkt. Der Boden wankt. Ich versinke.
Theurer Phaon! *)
Hinweggegangen bist du und hergeschritten ist mit ehernem Fuß der langhinstreckende Tod, im Hades wandelt der Freund, der Enkel der Hellenen, der Weise, der Deuter des göttlichen Platon; sterbend hat er dich genannt und gestammelt: er nun dein Schutz und
*) Hier findet sich ein Blatt von fremder, weiblicher Hand, ein Brief in griechischer Sprache. Es geht zur Hälfte ein Riß hindurch; der Empfänger, scheint es, wollte ihn zerstören und ließ wieder ab. Ich gebe den Inhalt in deutscher Uebersetzung. Der Herausgeber.
„ich zeige dir Anadyomene.“ Wie magnetiſch zieht ſie mich, ſchwebt mit mir über Gebirge, Meere, der Himmel wird tiefer blau, Inſeln ſchwimmen, rein ge¬ zeichnet, in Azur getaucht; ein Vorgebirge ſteigt auf, eine Landzunge in's Meer vorgelagert; „hier iſt Kni¬ dos,“ ſpricht die geiſterleichte Trägerin, läßt mich vor einer Tempelhalle nieder, ich trete ein und da ſteht ſie, die Gewänderablegende, — leuchtend, das Höchſte, was kunſtgewordene Natur erſchaffen kann. Schauen will ich, ſpricht's in mir, und fern bleiben. Da ſeh' ich Lebenswärme durch den Marmor rieſeln, das Ant¬ litz färbt ſich, das Haar wird Gold und ich erkenne Goldrun. Sie regt ſich, winkt. Der Boden wankt. Ich verſinke.
Theurer Phaon! *)
Hinweggegangen biſt du und hergeſchritten iſt mit ehernem Fuß der langhinſtreckende Tod, im Hades wandelt der Freund, der Enkel der Hellenen, der Weiſe, der Deuter des göttlichen Platon; ſterbend hat er dich genannt und geſtammelt: er nun dein Schutz und
*) Hier findet ſich ein Blatt von fremder, weiblicher Hand, ein Brief in griechiſcher Sprache. Es geht zur Hälfte ein Riß hindurch; der Empfänger, ſcheint es, wollte ihn zerſtören und ließ wieder ab. Ich gebe den Inhalt in deutſcher Ueberſetzung. Der Herausgeber.
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„ich zeige dir Anadyomene.“ Wie magnetiſch zieht
ſie mich, ſchwebt mit mir über Gebirge, Meere, der
Himmel wird tiefer blau, Inſeln ſchwimmen, rein ge¬
zeichnet, in Azur getaucht; ein Vorgebirge ſteigt auf,
eine Landzunge in's Meer vorgelagert; „hier iſt Kni¬
dos,“ ſpricht die geiſterleichte Trägerin, läßt mich vor
einer Tempelhalle nieder, ich trete ein und da ſteht
ſie, die Gewänderablegende, — leuchtend, das Höchſte,
was kunſtgewordene Natur erſchaffen kann. Schauen
will ich, ſpricht's in mir, und fern bleiben. Da ſeh'
ich Lebenswärme durch den Marmor rieſeln, das Ant¬
litz färbt ſich, das Haar wird Gold und ich erkenne
Goldrun. Sie regt ſich, winkt. Der Boden wankt.
Ich verſinke.
Theurer Phaon! *)
Hinweggegangen biſt du und hergeſchritten iſt mit
ehernem Fuß der langhinſtreckende Tod, im Hades
wandelt der Freund, der Enkel der Hellenen, der Weiſe,
der Deuter des göttlichen Platon; ſterbend hat er dich
genannt und geſtammelt: er nun dein Schutz und
*) Hier findet ſich ein Blatt von fremder, weiblicher Hand,
ein Brief in griechiſcher Sprache. Es geht zur Hälfte ein Riß
hindurch; der Empfänger, ſcheint es, wollte ihn zerſtören und
ließ wieder ab. Ich gebe den Inhalt in deutſcher Ueberſetzung.
Der Herausgeber.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/199>, abgerufen am 22.07.2024.
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