Im Gebirge redet leis, flüsternd und laut im Donnerton die Natur mit sich selbst. Alles spricht. Selbst innen in den Felsen tönt es von geheimen Stimmen der eingeschlossen fallenden, steigenden Wasser. Wie löst sich aber die Zunge im Wasserfall! Vörings¬ foß, mächtig. Hochher über alle Berge ragen von Norden die blauweißen Eismassen des Hardanger-Jökul. Wir stehen, schauen, hören. "Das sind Jötunstimmen," sagt sie, "Stimmen der alten Riesen, die noch erzäh¬ len vom Kampfe mit Thor." Sie kennt den alten Götterglauben, die Heldensagen. Ich habe ihr auch vom keltischen Glauben erzählt und gesagt, er weise doch eigentlich auf mehr Geist; eine Sage, wie die von Gwyon-Taliesin, habe die germanische Religion nicht, man erfahre kaum von Gründung der Civilisa¬ tion, der Humanität. "Ja," sagt sie, "und doch nein. Keine alte Religion hat eine Götterdämmerung. Ver¬ glühen alles Endlichen, selbst dessen, was ewig schien, ist doch weit, weit mehr als Taliesin; wissen Sie aus der Edda vom Wettgespräch zwischen Odin und dem weisheitsberühmten Riesen Vasthrudnir?"
"Nein."
"Der weiß auf alle Fragen Odin's Bescheid, auf eine nicht; Odin fragt ihn: ,weißt du, was ich meinem Sohne Baldur in's Ohr gesagt habe, ehe er auf den Scheiterhaufen gelegt wurde?' Das weiß der Riese nicht -- Wird ein Wort gewesen sein vom neuen
Im Gebirge redet leis, flüſternd und laut im Donnerton die Natur mit ſich ſelbſt. Alles ſpricht. Selbſt innen in den Felſen tönt es von geheimen Stimmen der eingeſchloſſen fallenden, ſteigenden Waſſer. Wie löst ſich aber die Zunge im Waſſerfall! Vörings¬ foß, mächtig. Hochher über alle Berge ragen von Norden die blauweißen Eismaſſen des Hardanger-Jökul. Wir ſtehen, ſchauen, hören. „Das ſind Jötunſtimmen,“ ſagt ſie, „Stimmen der alten Rieſen, die noch erzäh¬ len vom Kampfe mit Thor.“ Sie kennt den alten Götterglauben, die Heldenſagen. Ich habe ihr auch vom keltiſchen Glauben erzählt und geſagt, er weiſe doch eigentlich auf mehr Geiſt; eine Sage, wie die von Gwyon-Talieſin, habe die germaniſche Religion nicht, man erfahre kaum von Gründung der Civiliſa¬ tion, der Humanität. „Ja,“ ſagt ſie, „und doch nein. Keine alte Religion hat eine Götterdämmerung. Ver¬ glühen alles Endlichen, ſelbſt deſſen, was ewig ſchien, iſt doch weit, weit mehr als Talieſin; wiſſen Sie aus der Edda vom Wettgeſpräch zwiſchen Odin und dem weisheitsberühmten Rieſen Vaſthrudnir?“
„Nein.“
„Der weiß auf alle Fragen Odin's Beſcheid, auf eine nicht; Odin fragt ihn: ‚weißt du, was ich meinem Sohne Baldur in's Ohr geſagt habe, ehe er auf den Scheiterhaufen gelegt wurde?‘ Das weiß der Rieſe nicht — Wird ein Wort geweſen ſein vom neuen
<TEI><text><body><div><pbfacs="#f0166"n="153"/><p>Im Gebirge redet leis, flüſternd und laut im<lb/>
Donnerton die Natur mit ſich ſelbſt. Alles ſpricht.<lb/>
Selbſt innen in den Felſen tönt es von geheimen<lb/>
Stimmen der eingeſchloſſen fallenden, ſteigenden Waſſer.<lb/>
Wie löst ſich aber die Zunge im Waſſerfall! Vörings¬<lb/>
foß, mächtig. Hochher über alle Berge ragen von<lb/>
Norden die blauweißen Eismaſſen des Hardanger-Jökul.<lb/>
Wir ſtehen, ſchauen, hören. „Das ſind Jötunſtimmen,“<lb/>ſagt ſie, „Stimmen der alten Rieſen, die noch erzäh¬<lb/>
len vom Kampfe mit Thor.“ Sie kennt den alten<lb/>
Götterglauben, die Heldenſagen. Ich habe ihr auch<lb/>
vom keltiſchen Glauben erzählt und geſagt, er weiſe<lb/>
doch eigentlich auf mehr Geiſt; eine Sage, wie die<lb/>
von Gwyon-Talieſin, habe die germaniſche Religion<lb/>
nicht, man erfahre kaum von Gründung der Civiliſa¬<lb/>
tion, der Humanität. „Ja,“ſagt ſie, „und doch nein.<lb/>
Keine alte Religion hat eine Götterdämmerung. Ver¬<lb/>
glühen alles Endlichen, ſelbſt deſſen, was ewig ſchien,<lb/>
iſt doch weit, weit mehr als Talieſin; wiſſen Sie<lb/>
aus der Edda vom Wettgeſpräch zwiſchen Odin und<lb/>
dem weisheitsberühmten Rieſen Vaſthrudnir?“</p><lb/><p>„Nein.“</p><lb/><p>„Der weiß auf alle Fragen Odin's Beſcheid, auf<lb/>
eine nicht; Odin fragt ihn: ‚weißt du, was ich meinem<lb/>
Sohne Baldur in's Ohr geſagt habe, ehe er auf den<lb/>
Scheiterhaufen gelegt wurde?‘ Das weiß der Rieſe<lb/>
nicht — Wird ein Wort geweſen ſein vom neuen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[153/0166]
Im Gebirge redet leis, flüſternd und laut im
Donnerton die Natur mit ſich ſelbſt. Alles ſpricht.
Selbſt innen in den Felſen tönt es von geheimen
Stimmen der eingeſchloſſen fallenden, ſteigenden Waſſer.
Wie löst ſich aber die Zunge im Waſſerfall! Vörings¬
foß, mächtig. Hochher über alle Berge ragen von
Norden die blauweißen Eismaſſen des Hardanger-Jökul.
Wir ſtehen, ſchauen, hören. „Das ſind Jötunſtimmen,“
ſagt ſie, „Stimmen der alten Rieſen, die noch erzäh¬
len vom Kampfe mit Thor.“ Sie kennt den alten
Götterglauben, die Heldenſagen. Ich habe ihr auch
vom keltiſchen Glauben erzählt und geſagt, er weiſe
doch eigentlich auf mehr Geiſt; eine Sage, wie die
von Gwyon-Talieſin, habe die germaniſche Religion
nicht, man erfahre kaum von Gründung der Civiliſa¬
tion, der Humanität. „Ja,“ ſagt ſie, „und doch nein.
Keine alte Religion hat eine Götterdämmerung. Ver¬
glühen alles Endlichen, ſelbſt deſſen, was ewig ſchien,
iſt doch weit, weit mehr als Talieſin; wiſſen Sie
aus der Edda vom Wettgeſpräch zwiſchen Odin und
dem weisheitsberühmten Rieſen Vaſthrudnir?“
„Nein.“
„Der weiß auf alle Fragen Odin's Beſcheid, auf
eine nicht; Odin fragt ihn: ‚weißt du, was ich meinem
Sohne Baldur in's Ohr geſagt habe, ehe er auf den
Scheiterhaufen gelegt wurde?‘ Das weiß der Rieſe
nicht — Wird ein Wort geweſen ſein vom neuen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/166>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.