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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

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außer dem sie nichts sind und ohne das sie versiegen,
verwehen, hineinfallen in den Rachen der Alles ver¬
schlingenden Zeit? Aber wie Wenige thun es! Wie
treiben es denn die Meisten? Sie hasten und hetzen
dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner ist, weil
viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergessen das Eine,
an oder aus dem sie schwingen, und das doch immer
Eins und dasselbe bleibt. Es sollen ja freilich wohl
immer neue Gipfel sein, mit andern Worten: der
Mensch soll immer heller und gescheuter werden. Aber
man kann hell und gescheut werden auf zweierlei Art.
Man kann sinnen und sinnen, entdecken und entdecken,
Neues auf Neues erfinden, Alles, nur um immer be¬
quemer zu leben, mehr und feinere Lust zu haben.
Das führt zu den Gipfeln, die ja doch immer wieder
nur Niederungen sind. Die andere Art aber, die ist
ein Sinnen, das geht nach dem Wesen der Dinge und
tiefer und tiefer nach dem Einen in Allem, das nicht
größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird,
sondern immer gleich es selbst ist. Und obwohl man
es nie ganz erforscht, ihm nie ganz auf den Grund
sieht, so kühlt doch dieß Sinnen und Forschen die
Seele gar heilsam aus, nimmt ihr die falsche Hitze
und durchwärmt sie dafür mit der Liebe zu dem Einen,
und sie fängt an, auf das, was da wechselt in der
Zeit, herabzusehen wie von einem hohen Berg. Oder
mit andern Worten, da wird man selbst ein Menhir.

außer dem ſie nichts ſind und ohne das ſie verſiegen,
verwehen, hineinfallen in den Rachen der Alles ver¬
ſchlingenden Zeit? Aber wie Wenige thun es! Wie
treiben es denn die Meiſten? Sie haſten und hetzen
dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner iſt, weil
viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergeſſen das Eine,
an oder aus dem ſie ſchwingen, und das doch immer
Eins und daſſelbe bleibt. Es ſollen ja freilich wohl
immer neue Gipfel ſein, mit andern Worten: der
Menſch ſoll immer heller und geſcheuter werden. Aber
man kann hell und geſcheut werden auf zweierlei Art.
Man kann ſinnen und ſinnen, entdecken und entdecken,
Neues auf Neues erfinden, Alles, nur um immer be¬
quemer zu leben, mehr und feinere Luſt zu haben.
Das führt zu den Gipfeln, die ja doch immer wieder
nur Niederungen ſind. Die andere Art aber, die iſt
ein Sinnen, das geht nach dem Weſen der Dinge und
tiefer und tiefer nach dem Einen in Allem, das nicht
größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird,
ſondern immer gleich es ſelbſt iſt. Und obwohl man
es nie ganz erforſcht, ihm nie ganz auf den Grund
ſieht, ſo kühlt doch dieß Sinnen und Forſchen die
Seele gar heilſam aus, nimmt ihr die falſche Hitze
und durchwärmt ſie dafür mit der Liebe zu dem Einen,
und ſie fängt an, auf das, was da wechſelt in der
Zeit, herabzuſehen wie von einem hohen Berg. Oder
mit andern Worten, da wird man ſelbſt ein Menhir.

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[276/0289] außer dem ſie nichts ſind und ohne das ſie verſiegen, verwehen, hineinfallen in den Rachen der Alles ver¬ ſchlingenden Zeit? Aber wie Wenige thun es! Wie treiben es denn die Meiſten? Sie haſten und hetzen dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner iſt, weil viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergeſſen das Eine, an oder aus dem ſie ſchwingen, und das doch immer Eins und daſſelbe bleibt. Es ſollen ja freilich wohl immer neue Gipfel ſein, mit andern Worten: der Menſch ſoll immer heller und geſcheuter werden. Aber man kann hell und geſcheut werden auf zweierlei Art. Man kann ſinnen und ſinnen, entdecken und entdecken, Neues auf Neues erfinden, Alles, nur um immer be¬ quemer zu leben, mehr und feinere Luſt zu haben. Das führt zu den Gipfeln, die ja doch immer wieder nur Niederungen ſind. Die andere Art aber, die iſt ein Sinnen, das geht nach dem Weſen der Dinge und tiefer und tiefer nach dem Einen in Allem, das nicht größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird, ſondern immer gleich es ſelbſt iſt. Und obwohl man es nie ganz erforſcht, ihm nie ganz auf den Grund ſieht, ſo kühlt doch dieß Sinnen und Forſchen die Seele gar heilſam aus, nimmt ihr die falſche Hitze und durchwärmt ſie dafür mit der Liebe zu dem Einen, und ſie fängt an, auf das, was da wechſelt in der Zeit, herabzuſehen wie von einem hohen Berg. Oder mit andern Worten, da wird man ſelbſt ein Menhir.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/289>, abgerufen am 11.06.2024.