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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

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einleitende Töne auf der Harfe und begann seinen
Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie
gesetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch
geläufig war; im musikalischen Geschmack war seit
einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte
bewegtere Weisen, doch bedurfte der Sinn für den
Werth der alten ernsten Gangart nur einer Weckung und
der Barde war der Mann, solche in's Werk zu setzen:

"Sehe dich im Dunkeln leuchten,
Sehe dich im grauen, feuchten
Nebel sanft und stille brüten,
Samen alles Werdens hüten:
Willkommen, Auge du der Nacht,
Die auf den Wassern träumend liegt,
Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht,
Die spielend sich im Weltraum wiegt!
Weiße Schleier seh' ich wehen,
Lispeln hör' ich heil'ge Feen,
Tauchen auf und tauchen nieder,
Singen dunkle, alte Lieder:
Sie wissen, was da ist und war,
Eh' noch ein Menschenkind gelebt,
Dem Geisterblick ist offenbar,
Was werdend in den Nebeln schwebt.
Urgebirge seh' ich ragen,
Aus der Schöpfung ersten Tagen,
Felsenkämme breit geschichtet,
Hörner himmelan gerichtet:

einleitende Töne auf der Harfe und begann ſeinen
Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie
geſetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch
geläufig war; im muſikaliſchen Geſchmack war ſeit
einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte
bewegtere Weiſen, doch bedurfte der Sinn für den
Werth der alten ernſten Gangart nur einer Weckung und
der Barde war der Mann, ſolche in's Werk zu ſetzen:

„Sehe dich im Dunkeln leuchten,
Sehe dich im grauen, feuchten
Nebel ſanft und ſtille brüten,
Samen alles Werdens hüten:
Willkommen, Auge du der Nacht,
Die auf den Waſſern träumend liegt,
Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht,
Die ſpielend ſich im Weltraum wiegt!
Weiße Schleier ſeh' ich wehen,
Liſpeln hör' ich heil'ge Feen,
Tauchen auf und tauchen nieder,
Singen dunkle, alte Lieder:
Sie wiſſen, was da iſt und war,
Eh' noch ein Menſchenkind gelebt,
Dem Geiſterblick iſt offenbar,
Was werdend in den Nebeln ſchwebt.
Urgebirge ſeh' ich ragen,
Aus der Schöpfung erſten Tagen,
Felſenkämme breit geſchichtet,
Hörner himmelan gerichtet:
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[254/0267] einleitende Töne auf der Harfe und begann ſeinen Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie geſetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch geläufig war; im muſikaliſchen Geſchmack war ſeit einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte bewegtere Weiſen, doch bedurfte der Sinn für den Werth der alten ernſten Gangart nur einer Weckung und der Barde war der Mann, ſolche in's Werk zu ſetzen: „Sehe dich im Dunkeln leuchten, Sehe dich im grauen, feuchten Nebel ſanft und ſtille brüten, Samen alles Werdens hüten: Willkommen, Auge du der Nacht, Die auf den Waſſern träumend liegt, Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht, Die ſpielend ſich im Weltraum wiegt! Weiße Schleier ſeh' ich wehen, Liſpeln hör' ich heil'ge Feen, Tauchen auf und tauchen nieder, Singen dunkle, alte Lieder: Sie wiſſen, was da iſt und war, Eh' noch ein Menſchenkind gelebt, Dem Geiſterblick iſt offenbar, Was werdend in den Nebeln ſchwebt. Urgebirge ſeh' ich ragen, Aus der Schöpfung erſten Tagen, Felſenkämme breit geſchichtet, Hörner himmelan gerichtet:

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/267>, abgerufen am 11.06.2024.