Mit dem ersten Morgendämmern gieng er aus dem Hause. "Auch so früh schon auf?" grüßte er den Bittel, dem er begegnete. -- "Das trifft sich gut, Alpin, ich soll dich zum Druiden bestellen." Er sagte das nicht im Befehlton, sondern freundlich und mit einem gewissen Zwinkern der Augen. -- "Später, später, hab' augenblicks nicht Zeit, der Schafhirt hat ein paar hustenkranke Hämmel, muß nach dem Vieh sehen." Die Ausrede war nicht so grob, als sie es heut¬ zutage wäre, doch immerhin auffällig und der Bittel blieb verdutzt stehen. Alpin begab sich in seinen Heerde¬ stadel; es schien ihm, sein Vieh begrüße ihn nicht so herzlich wie sonst, und seine Lieblingskuh, die Lisi, bog gar den Kopf zur Seite, als er zu ihr trat; er gab ihr einen Faustschlag und rief: "Willst auch du mich ver¬ achten?" Das Thier, so rohe Behandlung nicht gewohnt, sah ihn mit den großen Augen traurig vorwurfsvoll an, als fragte es: wohin ist's mit dir gekommen?
Er trat heraus, bleich, unschlüssig, gieng wieder hinein, streichelte die Kuh, dann fuhr er schnell wieder aus der Thüre. Es muß etwas geschehen! es muß durchgebrochen werden! rief es in ihm, dunkel, aber stark. Mit straffen Schritten gieng er nach Odgal's Haus; er wußte, daß Sigune früh aufstand. Da sitzt sie auch, das Herdfeuer ist schon angezündet, aber sie macht sich nichts dabei zu thun; sie hält ein Ding in der Hand, auf das ihre Augen mit großer Spannung
Mit dem erſten Morgendämmern gieng er aus dem Hauſe. „Auch ſo früh ſchon auf?“ grüßte er den Bittel, dem er begegnete. — „Das trifft ſich gut, Alpin, ich ſoll dich zum Druiden beſtellen.“ Er ſagte das nicht im Befehlton, ſondern freundlich und mit einem gewiſſen Zwinkern der Augen. — „Später, ſpäter, hab' augenblicks nicht Zeit, der Schafhirt hat ein paar huſtenkranke Hämmel, muß nach dem Vieh ſehen.“ Die Ausrede war nicht ſo grob, als ſie es heut¬ zutage wäre, doch immerhin auffällig und der Bittel blieb verdutzt ſtehen. Alpin begab ſich in ſeinen Heerde¬ ſtadel; es ſchien ihm, ſein Vieh begrüße ihn nicht ſo herzlich wie ſonſt, und ſeine Lieblingskuh, die Liſi, bog gar den Kopf zur Seite, als er zu ihr trat; er gab ihr einen Fauſtſchlag und rief: „Willſt auch du mich ver¬ achten?“ Das Thier, ſo rohe Behandlung nicht gewohnt, ſah ihn mit den großen Augen traurig vorwurfsvoll an, als fragte es: wohin iſt's mit dir gekommen?
Er trat heraus, bleich, unſchlüſſig, gieng wieder hinein, ſtreichelte die Kuh, dann fuhr er ſchnell wieder aus der Thüre. Es muß etwas geſchehen! es muß durchgebrochen werden! rief es in ihm, dunkel, aber ſtark. Mit ſtraffen Schritten gieng er nach Odgal's Haus; er wußte, daß Sigune früh aufſtand. Da ſitzt ſie auch, das Herdfeuer iſt ſchon angezündet, aber ſie macht ſich nichts dabei zu thun; ſie hält ein Ding in der Hand, auf das ihre Augen mit großer Spannung
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Mit dem erſten Morgendämmern gieng er aus dem
Hauſe. „Auch ſo früh ſchon auf?“ grüßte er den
Bittel, dem er begegnete. — „Das trifft ſich gut,
Alpin, ich ſoll dich zum Druiden beſtellen.“ Er ſagte
das nicht im Befehlton, ſondern freundlich und mit
einem gewiſſen Zwinkern der Augen. — „Später,
ſpäter, hab' augenblicks nicht Zeit, der Schafhirt hat
ein paar huſtenkranke Hämmel, muß nach dem Vieh
ſehen.“ Die Ausrede war nicht ſo grob, als ſie es heut¬
zutage wäre, doch immerhin auffällig und der Bittel
blieb verdutzt ſtehen. Alpin begab ſich in ſeinen Heerde¬
ſtadel; es ſchien ihm, ſein Vieh begrüße ihn nicht ſo
herzlich wie ſonſt, und ſeine Lieblingskuh, die Liſi, bog
gar den Kopf zur Seite, als er zu ihr trat; er gab ihr
einen Fauſtſchlag und rief: „Willſt auch du mich ver¬
achten?“ Das Thier, ſo rohe Behandlung nicht gewohnt,
ſah ihn mit den großen Augen traurig vorwurfsvoll
an, als fragte es: wohin iſt's mit dir gekommen?
Er trat heraus, bleich, unſchlüſſig, gieng wieder
hinein, ſtreichelte die Kuh, dann fuhr er ſchnell wieder
aus der Thüre. Es muß etwas geſchehen! es muß
durchgebrochen werden! rief es in ihm, dunkel, aber
ſtark. Mit ſtraffen Schritten gieng er nach Odgal's
Haus; er wußte, daß Sigune früh aufſtand. Da ſitzt
ſie auch, das Herdfeuer iſt ſchon angezündet, aber ſie
macht ſich nichts dabei zu thun; ſie hält ein Ding in
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/237>, abgerufen am 04.12.2024.
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