hirn trübte, bewölkte, versimpelte und nichts ihm zu denken mehr übrig ließ, als Unsinn, Unrecht, Wider¬ sinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab ihm glühende Dolchstiche von der Zehe aufwärts bis in's Herz und Mark? O Menschheit, erkenne dieß, werde klar und du wirst verzeihender, wohlwollender, edler werden! Menschheit, habe Religion! Ein Held kann über einen Strohhalm stolpern! Ein Halbgott an einer Gräte ersticken! Und das ist noch nicht das Schlimmste, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann zum Fex, zum Troddel, zum Kinderspott, zum bösen Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum Scheusal werden. Kurz der Wahnsinn beherrscht das Geschehen: die Schuld der Geister, die Schuld der Teufelsrotte. Und aber trotzdem: sie können die Mensch¬ heit placken und schinden, aber nicht mehr unterkriegen, den Oberbau: Gesetz, Staat, Liebe, Kunst nicht mehr einstürzen, wir müssen streben, ringen, kämpfen, als ob sie nicht wären. Ja die Geister selbst und ihre bösen Werke, obwohl wir sie nicht hindern können, müssen uns dienen: wir erkennen sie, wir verwenden sie, namentlich in der Kunst."
Ich erschrack, weil ich mir denken konnte, nun werde er erst recht in's Zeug gehen. Denn er war immer aufgeräumter geworden, ließ sich nicht im ge¬ ringsten verstimmen durch die schwierige Aufgabe, die uns ein Theil des gediegenen Mittagessens stellte: alles
hirn trübte, bewölkte, verſimpelte und nichts ihm zu denken mehr übrig ließ, als Unſinn, Unrecht, Wider¬ ſinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab ihm glühende Dolchſtiche von der Zehe aufwärts bis in's Herz und Mark? O Menſchheit, erkenne dieß, werde klar und du wirſt verzeihender, wohlwollender, edler werden! Menſchheit, habe Religion! Ein Held kann über einen Strohhalm ſtolpern! Ein Halbgott an einer Gräte erſticken! Und das iſt noch nicht das Schlimmſte, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann zum Fex, zum Troddel, zum Kinderſpott, zum böſen Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum Scheuſal werden. Kurz der Wahnſinn beherrſcht das Geſchehen: die Schuld der Geiſter, die Schuld der Teufelsrotte. Und aber trotzdem: ſie können die Menſch¬ heit placken und ſchinden, aber nicht mehr unterkriegen, den Oberbau: Geſetz, Staat, Liebe, Kunſt nicht mehr einſtürzen, wir müſſen ſtreben, ringen, kämpfen, als ob ſie nicht wären. Ja die Geiſter ſelbſt und ihre böſen Werke, obwohl wir ſie nicht hindern können, müſſen uns dienen: wir erkennen ſie, wir verwenden ſie, namentlich in der Kunſt.“
Ich erſchrack, weil ich mir denken konnte, nun werde er erſt recht in's Zeug gehen. Denn er war immer aufgeräumter geworden, ließ ſich nicht im ge¬ ringſten verſtimmen durch die ſchwierige Aufgabe, die uns ein Theil des gediegenen Mittageſſens ſtellte: alles
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0108"n="95"/>
hirn trübte, bewölkte, verſimpelte und nichts ihm zu<lb/>
denken mehr übrig ließ, als Unſinn, Unrecht, Wider¬<lb/>ſinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab<lb/>
ihm glühende Dolchſtiche von der Zehe aufwärts bis<lb/>
in's Herz und Mark? O Menſchheit, erkenne dieß,<lb/>
werde klar und du wirſt verzeihender, wohlwollender,<lb/>
edler werden! Menſchheit, habe Religion! Ein Held<lb/>
kann über einen Strohhalm ſtolpern! Ein Halbgott<lb/>
an einer Gräte erſticken! Und das iſt noch nicht das<lb/>
Schlimmſte, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann<lb/>
zum Fex, zum Troddel, zum Kinderſpott, zum böſen<lb/>
Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum<lb/>
Scheuſal werden. Kurz der Wahnſinn beherrſcht das<lb/>
Geſchehen: die Schuld der Geiſter, die Schuld der<lb/>
Teufelsrotte. Und aber trotzdem: ſie können die Menſch¬<lb/>
heit placken und ſchinden, aber nicht mehr unterkriegen,<lb/>
den Oberbau: Geſetz, Staat, Liebe, Kunſt nicht mehr<lb/>
einſtürzen, wir müſſen ſtreben, ringen, kämpfen, als<lb/>
ob ſie nicht wären. Ja die Geiſter ſelbſt und ihre<lb/>
böſen Werke, obwohl wir ſie nicht hindern können,<lb/>
müſſen uns dienen: wir erkennen ſie, wir verwenden<lb/>ſie, namentlich in der Kunſt.“</p><lb/><p>Ich erſchrack, weil ich mir denken konnte, nun<lb/>
werde er erſt recht in's Zeug gehen. Denn er war<lb/>
immer aufgeräumter geworden, ließ ſich nicht im ge¬<lb/>
ringſten verſtimmen durch die ſchwierige Aufgabe, die<lb/>
uns ein Theil des gediegenen Mittageſſens ſtellte: alles<lb/></p></div></body></text></TEI>
[95/0108]
hirn trübte, bewölkte, verſimpelte und nichts ihm zu
denken mehr übrig ließ, als Unſinn, Unrecht, Wider¬
ſinn? Brannte nicht vielleicht ein Hühnerauge, gab
ihm glühende Dolchſtiche von der Zehe aufwärts bis
in's Herz und Mark? O Menſchheit, erkenne dieß,
werde klar und du wirſt verzeihender, wohlwollender,
edler werden! Menſchheit, habe Religion! Ein Held
kann über einen Strohhalm ſtolpern! Ein Halbgott
an einer Gräte erſticken! Und das iſt noch nicht das
Schlimmſte, aber ein Vernünftiger, ein Braver kann
zum Fex, zum Troddel, zum Kinderſpott, zum böſen
Nickel, zum Schmutzigel, ja zum Verbrecher, zum
Scheuſal werden. Kurz der Wahnſinn beherrſcht das
Geſchehen: die Schuld der Geiſter, die Schuld der
Teufelsrotte. Und aber trotzdem: ſie können die Menſch¬
heit placken und ſchinden, aber nicht mehr unterkriegen,
den Oberbau: Geſetz, Staat, Liebe, Kunſt nicht mehr
einſtürzen, wir müſſen ſtreben, ringen, kämpfen, als
ob ſie nicht wären. Ja die Geiſter ſelbſt und ihre
böſen Werke, obwohl wir ſie nicht hindern können,
müſſen uns dienen: wir erkennen ſie, wir verwenden
ſie, namentlich in der Kunſt.“
Ich erſchrack, weil ich mir denken konnte, nun
werde er erſt recht in's Zeug gehen. Denn er war
immer aufgeräumter geworden, ließ ſich nicht im ge¬
ringſten verſtimmen durch die ſchwierige Aufgabe, die
uns ein Theil des gediegenen Mittageſſens ſtellte: alles
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/108>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.