gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoesie hat sich denn über alle möglichen Zweige der Wissenschaft verbreitet bis zu den anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Ge- lehrten); sie hat höhere, künstlerische (ars poetica des Horaz u. s. w.) und niedrige Technik, bis zur Seidenspinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem ästhetischen Inhalt der ersteren ist ihr geringer Gewinn an poetischem Werth erwachsen, denn die Wohlweisheit des Recepts, so viel Verständiges dasselbe enthalten mag, sinkt an dem freien Geiste des Ideals, über den sie sich ergießt, als mattes, laues Wasser hinunter.
§. 926.
Die Tendenzpoesie verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen Elemente, welche in der didaktischen zu Tage liegt, unter der Energie des pathetischen Hindringens auf den Zweck und nähert sich dadurch einem andern Grenzgebiete der Poesie, der Rhetorik. Diese greift vom praktisch ethischen Boden in die Dichtkunst herüber, indem sie zum Zweck einer bestimmten Wirkung auf den Willen Gefühl und Phantasie aufbietet und diese Mittel mit denen der Ueberzeugung zu einem künstlerischen Ganzen verarbeitet.
Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf den theoretischen Geist wirken, sondern auf das sittliche, politische Leben (vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbestimmt eben durch jenen. Die Tendenzpoesie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, sich direct in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu bestimmen, daß sie durch den Willen die Idee, für welche der Dichter begeistert ist, realisiren, und indirect verfährt sie dabei nur sofern, als sie diesen Zweck unter den poetischen Mitteln verhüllt. Sie ist in §. 848 als Fehler besprochen; hier, im Anhang, wo es sich von berechtigten Nebenformen handelt, muß sie noch einmal, und auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie steht über und unter der didaktischen: über ihr, sofern das Pathos für ein bestimmtes reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger ist, als die stille Wärme, die eine Betrachtung begleitet, unter ihr, sofern die Betrachtung, welche die Welt nicht unter dem Standpuncte des Sollens ansieht und nicht das patholo- gische Interesse hat, auf sie direct einzuwirken, idealer ist und wenn sie die höchsten Sphären zum Inhalte nimmt, dem Gebiete des absoluten Geistes angehört; man kann hinzusetzen, daß die geständige Lehr-Absicht weniger unbehaglich stimmt, als die versteckte des Wirkens, die man wittert und der man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man die eine der andern vorziehen und am leichtesten sich mit dem Tendenziösen versöhnen, wenn man sieht, daß es nur die schwächere Seite eines Dichter-
gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoeſie hat ſich denn über alle möglichen Zweige der Wiſſenſchaft verbreitet bis zu den anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Ge- lehrten); ſie hat höhere, künſtleriſche (ars poetica des Horaz u. ſ. w.) und niedrige Technik, bis zur Seidenſpinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem äſthetiſchen Inhalt der erſteren iſt ihr geringer Gewinn an poetiſchem Werth erwachſen, denn die Wohlweisheit des Recepts, ſo viel Verſtändiges daſſelbe enthalten mag, ſinkt an dem freien Geiſte des Ideals, über den ſie ſich ergießt, als mattes, laues Waſſer hinunter.
§. 926.
Die Tendenzpoeſie verhüllt die unorganiſche Verbindung der äſthetiſchen Elemente, welche in der didaktiſchen zu Tage liegt, unter der Energie des pathetiſchen Hindringens auf den Zweck und nähert ſich dadurch einem andern Grenzgebiete der Poeſie, der Rhetorik. Dieſe greift vom praktiſch ethiſchen Boden in die Dichtkunſt herüber, indem ſie zum Zweck einer beſtimmten Wirkung auf den Willen Gefühl und Phantaſie aufbietet und dieſe Mittel mit denen der Ueberzeugung zu einem künſtleriſchen Ganzen verarbeitet.
Die Lehrpoeſie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf den theoretiſchen Geiſt wirken, ſondern auf das ſittliche, politiſche Leben (vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbeſtimmt eben durch jenen. Die Tendenzpoeſie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, ſich direct in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu beſtimmen, daß ſie durch den Willen die Idee, für welche der Dichter begeiſtert iſt, realiſiren, und indirect verfährt ſie dabei nur ſofern, als ſie dieſen Zweck unter den poetiſchen Mitteln verhüllt. Sie iſt in §. 848 als Fehler beſprochen; hier, im Anhang, wo es ſich von berechtigten Nebenformen handelt, muß ſie noch einmal, und auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie ſteht über und unter der didaktiſchen: über ihr, ſofern das Pathos für ein beſtimmtes reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger iſt, als die ſtille Wärme, die eine Betrachtung begleitet, unter ihr, ſofern die Betrachtung, welche die Welt nicht unter dem Standpuncte des Sollens anſieht und nicht das patholo- giſche Intereſſe hat, auf ſie direct einzuwirken, idealer iſt und wenn ſie die höchſten Sphären zum Inhalte nimmt, dem Gebiete des abſoluten Geiſtes angehört; man kann hinzuſetzen, daß die geſtändige Lehr-Abſicht weniger unbehaglich ſtimmt, als die verſteckte des Wirkens, die man wittert und der man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man die eine der andern vorziehen und am leichteſten ſich mit dem Tendenziöſen verſöhnen, wenn man ſieht, daß es nur die ſchwächere Seite eines Dichter-
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[1472/0336]
gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoeſie hat ſich
denn über alle möglichen Zweige der Wiſſenſchaft verbreitet bis zu den
anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Ge-
lehrten); ſie hat höhere, künſtleriſche (ars poetica des Horaz u. ſ. w.) und
niedrige Technik, bis zur Seidenſpinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem
äſthetiſchen Inhalt der erſteren iſt ihr geringer Gewinn an poetiſchem Werth
erwachſen, denn die Wohlweisheit des Recepts, ſo viel Verſtändiges daſſelbe
enthalten mag, ſinkt an dem freien Geiſte des Ideals, über den ſie ſich
ergießt, als mattes, laues Waſſer hinunter.
§. 926.
Die Tendenzpoeſie verhüllt die unorganiſche Verbindung der äſthetiſchen
Elemente, welche in der didaktiſchen zu Tage liegt, unter der Energie des
pathetiſchen Hindringens auf den Zweck und nähert ſich dadurch einem andern
Grenzgebiete der Poeſie, der Rhetorik. Dieſe greift vom praktiſch ethiſchen
Boden in die Dichtkunſt herüber, indem ſie zum Zweck einer beſtimmten Wirkung
auf den Willen Gefühl und Phantaſie aufbietet und dieſe Mittel mit denen der
Ueberzeugung zu einem künſtleriſchen Ganzen verarbeitet.
Die Lehrpoeſie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf
den theoretiſchen Geiſt wirken, ſondern auf das ſittliche, politiſche Leben
(vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbeſtimmt eben durch jenen.
Die Tendenzpoeſie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, ſich direct
in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu beſtimmen, daß ſie durch
den Willen die Idee, für welche der Dichter begeiſtert iſt, realiſiren, und
indirect verfährt ſie dabei nur ſofern, als ſie dieſen Zweck unter den poetiſchen
Mitteln verhüllt. Sie iſt in §. 848 als Fehler beſprochen; hier, im Anhang,
wo es ſich von berechtigten Nebenformen handelt, muß ſie noch einmal, und
auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie ſteht über
und unter der didaktiſchen: über ihr, ſofern das Pathos für ein beſtimmtes
reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger iſt, als die ſtille Wärme, die eine
Betrachtung begleitet, unter ihr, ſofern die Betrachtung, welche die Welt
nicht unter dem Standpuncte des Sollens anſieht und nicht das patholo-
giſche Intereſſe hat, auf ſie direct einzuwirken, idealer iſt und wenn ſie die
höchſten Sphären zum Inhalte nimmt, dem Gebiete des abſoluten Geiſtes
angehört; man kann hinzuſetzen, daß die geſtändige Lehr-Abſicht weniger
unbehaglich ſtimmt, als die verſteckte des Wirkens, die man wittert und der
man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man
die eine der andern vorziehen und am leichteſten ſich mit dem Tendenziöſen
verſöhnen, wenn man ſieht, daß es nur die ſchwächere Seite eines Dichter-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/336>, abgerufen am 16.02.2025.
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