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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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störend sind. Wo die Wissenschaft auf ihrem eigenen, strengen Boden
steht, soll ihr die Poesie nicht folgen wollen; sie lenkt vom Wahren als
blos Wahrem ab und die Mischung verwirrt durch die Theilung unseres
Interesses an den Selbstzweck des Schönen und an den Selbstzweck des
Wahren.

4. Endlich gelangen wir zu dem äußersten breiten Rande dieses Ge-
bietes, dem Lehrgedicht im engeren Sinne des Worts. Es
nimmt eine bestimmte Materie vor und handelt sie nach ihrer innern,
gegenständlichen Ordnung ab; der ausgesprochene Lehrzweck, die logische
Ordnung und die ausgedehnte Durchführung sind seine Merkmale. Hier ist
die Grenze, wo die Poesie in die Abhandlung übergeht und das Aesthetische
am entschiedensten nur äußerlich anhängt. Es ist klar, daß dieses sich in
dem Grade verstärkt, in welchem der Gegenstand naturvoll ist, innige Be-
ziehung des Menschen zur Natur enthält: dann nähert sich das Lehrgedicht
in seinen epischen und lyrischen Elementen der Idylle; so vor Allem in den
Gedichten vom Landbau. In Hesiod's Werken und Tagen besitzt auch diese
Gattung ein Gedicht jenes ursprünglichen, ehrwürdigen Charakters, der
allerdings die idyllische Wirkung nur für uns hat, denn hier ist das Bild
eines Zustands, der weit hinter der Trennung der Kräfte und Zerspaltung
des Lebens liegt, die den müden Menschen treibt, in der ländlichen Natur
die verlorene Einfalt zu suchen, hier ist ursprüngliche Einfalt, die einfache
Thätigkeit in Feld und Haus mit ihren Regeln und Gesetzen bildet Einen
ungetrennten Kreis mit den höchsten ethischen Pflichten und mit der Religion;
wogegen Virgil's Georgica ihre Anleitungen mit einer Naturschilderung
schmücken, die schon den elegischen Charakter einer Welt tragen, wo das
Gemüth die verlorene Natur wieder aufsucht, um sich in ihr zu erholen. --
Ein Reichthum poetischer Motive liegt in den Heilkräften, die aus dem
Schooße der Natur sprudeln; Neubeck hat in seinen "Gesundbrunnen" einen
glücklichen Stoff glücklich behandelt. -- In anderem Sinn erwärmt sich das
Didaktische, wenn eine Seite des menschlichen Lebens ergriffen wird, die
dem Affect angehört und an sich keine Methode kennt, wie in Ovid's Kunst
zu lieben; hier entsteht durch das Lehrhafte, das Abhandelnde eigentlich eine
freie und heitere Ironie des Lehrgedichts. Das ethische Lehrgedicht, sei es
ermahnend oder tröstend (Opitz: von der Ruhe des Gemüths, vom wahren
Glück, Trostgedicht in den Widerwärtigkeiten des Kriegs), hat neben der
Poesie der Schilderungen seine ästhetische Stütze auf die Energie des Pathos
zu stellen. Die farblosesten Bildungen entstehen natürlich, wenn rein wissen-
schaftliche oder technische Materien behandelt werden. Noch einmal ist aller-
dings naiv alterthümliche und moderne Form des Bewußtseins zu unter-
scheiden: der poetische Vortrag der Philosophie im Mund eines Parmenides
und Empedokles ist etwas Anderes, als die Gedichte eines Lucretius und

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ſtörend ſind. Wo die Wiſſenſchaft auf ihrem eigenen, ſtrengen Boden
ſteht, ſoll ihr die Poeſie nicht folgen wollen; ſie lenkt vom Wahren als
blos Wahrem ab und die Miſchung verwirrt durch die Theilung unſeres
Intereſſes an den Selbſtzweck des Schönen und an den Selbſtzweck des
Wahren.

4. Endlich gelangen wir zu dem äußerſten breiten Rande dieſes Ge-
bietes, dem Lehrgedicht im engeren Sinne des Worts. Es
nimmt eine beſtimmte Materie vor und handelt ſie nach ihrer innern,
gegenſtändlichen Ordnung ab; der ausgeſprochene Lehrzweck, die logiſche
Ordnung und die ausgedehnte Durchführung ſind ſeine Merkmale. Hier iſt
die Grenze, wo die Poeſie in die Abhandlung übergeht und das Aeſthetiſche
am entſchiedenſten nur äußerlich anhängt. Es iſt klar, daß dieſes ſich in
dem Grade verſtärkt, in welchem der Gegenſtand naturvoll iſt, innige Be-
ziehung des Menſchen zur Natur enthält: dann nähert ſich das Lehrgedicht
in ſeinen epiſchen und lyriſchen Elementen der Idylle; ſo vor Allem in den
Gedichten vom Landbau. In Heſiod’s Werken und Tagen beſitzt auch dieſe
Gattung ein Gedicht jenes urſprünglichen, ehrwürdigen Charakters, der
allerdings die idylliſche Wirkung nur für uns hat, denn hier iſt das Bild
eines Zuſtands, der weit hinter der Trennung der Kräfte und Zerſpaltung
des Lebens liegt, die den müden Menſchen treibt, in der ländlichen Natur
die verlorene Einfalt zu ſuchen, hier iſt urſprüngliche Einfalt, die einfache
Thätigkeit in Feld und Haus mit ihren Regeln und Geſetzen bildet Einen
ungetrennten Kreis mit den höchſten ethiſchen Pflichten und mit der Religion;
wogegen Virgil’s Georgica ihre Anleitungen mit einer Naturſchilderung
ſchmücken, die ſchon den elegiſchen Charakter einer Welt tragen, wo das
Gemüth die verlorene Natur wieder aufſucht, um ſich in ihr zu erholen. —
Ein Reichthum poetiſcher Motive liegt in den Heilkräften, die aus dem
Schooße der Natur ſprudeln; Neubeck hat in ſeinen „Geſundbrunnen“ einen
glücklichen Stoff glücklich behandelt. — In anderem Sinn erwärmt ſich das
Didaktiſche, wenn eine Seite des menſchlichen Lebens ergriffen wird, die
dem Affect angehört und an ſich keine Methode kennt, wie in Ovid’s Kunſt
zu lieben; hier entſteht durch das Lehrhafte, das Abhandelnde eigentlich eine
freie und heitere Ironie des Lehrgedichts. Das ethiſche Lehrgedicht, ſei es
ermahnend oder tröſtend (Opitz: von der Ruhe des Gemüths, vom wahren
Glück, Troſtgedicht in den Widerwärtigkeiten des Kriegs), hat neben der
Poeſie der Schilderungen ſeine äſthetiſche Stütze auf die Energie des Pathos
zu ſtellen. Die farbloſeſten Bildungen entſtehen natürlich, wenn rein wiſſen-
ſchaftliche oder techniſche Materien behandelt werden. Noch einmal iſt aller-
dings naiv alterthümliche und moderne Form des Bewußtſeins zu unter-
ſcheiden: der poetiſche Vortrag der Philoſophie im Mund eines Parmenides
und Empedokles iſt etwas Anderes, als die Gedichte eines Lucretius und

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[1471/0335] ſtörend ſind. Wo die Wiſſenſchaft auf ihrem eigenen, ſtrengen Boden ſteht, ſoll ihr die Poeſie nicht folgen wollen; ſie lenkt vom Wahren als blos Wahrem ab und die Miſchung verwirrt durch die Theilung unſeres Intereſſes an den Selbſtzweck des Schönen und an den Selbſtzweck des Wahren. 4. Endlich gelangen wir zu dem äußerſten breiten Rande dieſes Ge- bietes, dem Lehrgedicht im engeren Sinne des Worts. Es nimmt eine beſtimmte Materie vor und handelt ſie nach ihrer innern, gegenſtändlichen Ordnung ab; der ausgeſprochene Lehrzweck, die logiſche Ordnung und die ausgedehnte Durchführung ſind ſeine Merkmale. Hier iſt die Grenze, wo die Poeſie in die Abhandlung übergeht und das Aeſthetiſche am entſchiedenſten nur äußerlich anhängt. Es iſt klar, daß dieſes ſich in dem Grade verſtärkt, in welchem der Gegenſtand naturvoll iſt, innige Be- ziehung des Menſchen zur Natur enthält: dann nähert ſich das Lehrgedicht in ſeinen epiſchen und lyriſchen Elementen der Idylle; ſo vor Allem in den Gedichten vom Landbau. In Heſiod’s Werken und Tagen beſitzt auch dieſe Gattung ein Gedicht jenes urſprünglichen, ehrwürdigen Charakters, der allerdings die idylliſche Wirkung nur für uns hat, denn hier iſt das Bild eines Zuſtands, der weit hinter der Trennung der Kräfte und Zerſpaltung des Lebens liegt, die den müden Menſchen treibt, in der ländlichen Natur die verlorene Einfalt zu ſuchen, hier iſt urſprüngliche Einfalt, die einfache Thätigkeit in Feld und Haus mit ihren Regeln und Geſetzen bildet Einen ungetrennten Kreis mit den höchſten ethiſchen Pflichten und mit der Religion; wogegen Virgil’s Georgica ihre Anleitungen mit einer Naturſchilderung ſchmücken, die ſchon den elegiſchen Charakter einer Welt tragen, wo das Gemüth die verlorene Natur wieder aufſucht, um ſich in ihr zu erholen. — Ein Reichthum poetiſcher Motive liegt in den Heilkräften, die aus dem Schooße der Natur ſprudeln; Neubeck hat in ſeinen „Geſundbrunnen“ einen glücklichen Stoff glücklich behandelt. — In anderem Sinn erwärmt ſich das Didaktiſche, wenn eine Seite des menſchlichen Lebens ergriffen wird, die dem Affect angehört und an ſich keine Methode kennt, wie in Ovid’s Kunſt zu lieben; hier entſteht durch das Lehrhafte, das Abhandelnde eigentlich eine freie und heitere Ironie des Lehrgedichts. Das ethiſche Lehrgedicht, ſei es ermahnend oder tröſtend (Opitz: von der Ruhe des Gemüths, vom wahren Glück, Troſtgedicht in den Widerwärtigkeiten des Kriegs), hat neben der Poeſie der Schilderungen ſeine äſthetiſche Stütze auf die Energie des Pathos zu ſtellen. Die farbloſeſten Bildungen entſtehen natürlich, wenn rein wiſſen- ſchaftliche oder techniſche Materien behandelt werden. Noch einmal iſt aller- dings naiv alterthümliche und moderne Form des Bewußtſeins zu unter- ſcheiden: der poetiſche Vortrag der Philoſophie im Mund eines Parmenides und Empedokles iſt etwas Anderes, als die Gedichte eines Lucretius und 94**

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/335>, abgerufen am 04.05.2024.