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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Verfolgen, dem Ausspinnen der einzelnen Abenteuer und endlich springt --
nicht Lehrabsicht wie in der Fabel, aber Satyre als Bedeutung des Ganzen
hervor, Satyre von jener negativen Art, die nur im Sinne der untergelegten
Folie verfährt. Die Thiersage steht ursprünglich nur an ihrer Schwelle, sie
bewegt sich aber nach und nach nothwendig über dieselbe; das Ausspinnen
äußert sich zugleich als der Trieb, ein zusammenhängendes satyrisches Welt-
bild zu schaffen, daher ein Zug zur Verbindung der einzelnen Erzählungen,
der ganz wie in der Heldensage endlich zu einem Epos führt. Dieß Epos
ist denn die vollendete Ironie des Heldengedichts, ein Bild der Welt, wie
sie ist, wenn man das Gewissen daraus wegläßt, ein Streit der allgemeinen
Selbstsucht, worin die listigste jede andere überholt. Seine Vollendung fällt
natürlich in eine ungleich spätere Zeit, sie fällt zusammen mit der Epoche,
da die Nation jenes bittere Ding, das wir Erfahrung nennen, um eine
Welt von Illusionen erkauft und da sie begriffen hat, was eigentlich Politik
und was Pfaffenthum ist, da "Reineke Fuchs wirklich zum Kanzler des
Reichs geworden ist" (Rosenkranz Gesch. d. deutsch. Poesie im Mittelalter
S. 611). Es ist eine etwas schwierige Frage, wohin man das Thier-Epos
stellen soll: in die Lehre vom Epos, von der Satyre, oder neben die Fabel.
Nur die innige Verwandtschaft des bildlichen Stoffes entscheidet uns für
die letztere Anordnung. Vermöge derselben ist es nur natürlich, daß sich
Fabeln unter den Thiersagen finden, ja es fragt sich, ob die Fabel nicht
eine degenerirte, didaktisch gewordene, zerstückelte Thiersage sei, wie J. Grimm
annimmt; sie ist aber wohl vielmehr ursprünglich eine selbständige Schwester
derselben. --

Aus diesen uralten, ursprünglichen Gebieten führt uns nun ein freilich
rascher Sprung, wie ihn die Mannigfaltigkeit der Formen in diesem ge-
mischten Gebiete mit sich bringt, zu dem beschreibenden Gedichte. Es
blühte im achtzehnten Jahrhundert, als die Poesie mit allen Kräften nach
der Natur, nach der Anschauung drängte, aber das Grundgesetz, daß sie
nicht malen darf, als hätte sie ein räumlich Festes vor sich (vergl. §. 847),
noch nicht begriffen hatte. Nun gab man Naturschilderungen ohne Hand-
lung; hiemit war der ideale Gehalt in das unorganische Verhältniß gestellt,
daß er nicht als immanente Bewegung in den Darstellungsstoff selbst eindrang,
daher als Lehre neben denselben treten mußte, und so kann keine Frage
sein, daß Werke wie Thomson's Jahreszeiten, Brocke's irdisches Vergnügen
in Gott, Haller's Alpen, Kleist's Frühling in das didaktische Gebiet ge-
hören, und zwar des objectiven Charakters der Schilderung wegen in dessen
epische Sphäre. -- Noch ist kurz ein Ausläufer der Poesie nach einer andern
Art der Prosa, nämlich der historischen Wahrheit zu erwähnen: die
Reimchronik, ein Werk der Kindheit der Geschichtschreibung im Mittel-
alter; die Geschichte ist mit der Sage vermischt und ladet so zur Bearbeitung

Verfolgen, dem Ausſpinnen der einzelnen Abenteuer und endlich ſpringt —
nicht Lehrabſicht wie in der Fabel, aber Satyre als Bedeutung des Ganzen
hervor, Satyre von jener negativen Art, die nur im Sinne der untergelegten
Folie verfährt. Die Thierſage ſteht urſprünglich nur an ihrer Schwelle, ſie
bewegt ſich aber nach und nach nothwendig über dieſelbe; das Ausſpinnen
äußert ſich zugleich als der Trieb, ein zuſammenhängendes ſatyriſches Welt-
bild zu ſchaffen, daher ein Zug zur Verbindung der einzelnen Erzählungen,
der ganz wie in der Heldenſage endlich zu einem Epos führt. Dieß Epos
iſt denn die vollendete Ironie des Heldengedichts, ein Bild der Welt, wie
ſie iſt, wenn man das Gewiſſen daraus wegläßt, ein Streit der allgemeinen
Selbſtſucht, worin die liſtigſte jede andere überholt. Seine Vollendung fällt
natürlich in eine ungleich ſpätere Zeit, ſie fällt zuſammen mit der Epoche,
da die Nation jenes bittere Ding, das wir Erfahrung nennen, um eine
Welt von Illuſionen erkauft und da ſie begriffen hat, was eigentlich Politik
und was Pfaffenthum iſt, da „Reineke Fuchs wirklich zum Kanzler des
Reichs geworden iſt“ (Roſenkranz Geſch. d. deutſch. Poeſie im Mittelalter
S. 611). Es iſt eine etwas ſchwierige Frage, wohin man das Thier-Epos
ſtellen ſoll: in die Lehre vom Epos, von der Satyre, oder neben die Fabel.
Nur die innige Verwandtſchaft des bildlichen Stoffes entſcheidet uns für
die letztere Anordnung. Vermöge derſelben iſt es nur natürlich, daß ſich
Fabeln unter den Thierſagen finden, ja es fragt ſich, ob die Fabel nicht
eine degenerirte, didaktiſch gewordene, zerſtückelte Thierſage ſei, wie J. Grimm
annimmt; ſie iſt aber wohl vielmehr urſprünglich eine ſelbſtändige Schweſter
derſelben. —

Aus dieſen uralten, urſprünglichen Gebieten führt uns nun ein freilich
raſcher Sprung, wie ihn die Mannigfaltigkeit der Formen in dieſem ge-
miſchten Gebiete mit ſich bringt, zu dem beſchreibenden Gedichte. Es
blühte im achtzehnten Jahrhundert, als die Poeſie mit allen Kräften nach
der Natur, nach der Anſchauung drängte, aber das Grundgeſetz, daß ſie
nicht malen darf, als hätte ſie ein räumlich Feſtes vor ſich (vergl. §. 847),
noch nicht begriffen hatte. Nun gab man Naturſchilderungen ohne Hand-
lung; hiemit war der ideale Gehalt in das unorganiſche Verhältniß geſtellt,
daß er nicht als immanente Bewegung in den Darſtellungsſtoff ſelbſt eindrang,
daher als Lehre neben denſelben treten mußte, und ſo kann keine Frage
ſein, daß Werke wie Thomſon’s Jahreszeiten, Brocke’s irdiſches Vergnügen
in Gott, Haller’s Alpen, Kleiſt’s Frühling in das didaktiſche Gebiet ge-
hören, und zwar des objectiven Charakters der Schilderung wegen in deſſen
epiſche Sphäre. — Noch iſt kurz ein Ausläufer der Poeſie nach einer andern
Art der Proſa, nämlich der hiſtoriſchen Wahrheit zu erwähnen: die
Reimchronik, ein Werk der Kindheit der Geſchichtſchreibung im Mittel-
alter; die Geſchichte iſt mit der Sage vermiſcht und ladet ſo zur Bearbeitung

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[1468/0332] Verfolgen, dem Ausſpinnen der einzelnen Abenteuer und endlich ſpringt — nicht Lehrabſicht wie in der Fabel, aber Satyre als Bedeutung des Ganzen hervor, Satyre von jener negativen Art, die nur im Sinne der untergelegten Folie verfährt. Die Thierſage ſteht urſprünglich nur an ihrer Schwelle, ſie bewegt ſich aber nach und nach nothwendig über dieſelbe; das Ausſpinnen äußert ſich zugleich als der Trieb, ein zuſammenhängendes ſatyriſches Welt- bild zu ſchaffen, daher ein Zug zur Verbindung der einzelnen Erzählungen, der ganz wie in der Heldenſage endlich zu einem Epos führt. Dieß Epos iſt denn die vollendete Ironie des Heldengedichts, ein Bild der Welt, wie ſie iſt, wenn man das Gewiſſen daraus wegläßt, ein Streit der allgemeinen Selbſtſucht, worin die liſtigſte jede andere überholt. Seine Vollendung fällt natürlich in eine ungleich ſpätere Zeit, ſie fällt zuſammen mit der Epoche, da die Nation jenes bittere Ding, das wir Erfahrung nennen, um eine Welt von Illuſionen erkauft und da ſie begriffen hat, was eigentlich Politik und was Pfaffenthum iſt, da „Reineke Fuchs wirklich zum Kanzler des Reichs geworden iſt“ (Roſenkranz Geſch. d. deutſch. Poeſie im Mittelalter S. 611). Es iſt eine etwas ſchwierige Frage, wohin man das Thier-Epos ſtellen ſoll: in die Lehre vom Epos, von der Satyre, oder neben die Fabel. Nur die innige Verwandtſchaft des bildlichen Stoffes entſcheidet uns für die letztere Anordnung. Vermöge derſelben iſt es nur natürlich, daß ſich Fabeln unter den Thierſagen finden, ja es fragt ſich, ob die Fabel nicht eine degenerirte, didaktiſch gewordene, zerſtückelte Thierſage ſei, wie J. Grimm annimmt; ſie iſt aber wohl vielmehr urſprünglich eine ſelbſtändige Schweſter derſelben. — Aus dieſen uralten, urſprünglichen Gebieten führt uns nun ein freilich raſcher Sprung, wie ihn die Mannigfaltigkeit der Formen in dieſem ge- miſchten Gebiete mit ſich bringt, zu dem beſchreibenden Gedichte. Es blühte im achtzehnten Jahrhundert, als die Poeſie mit allen Kräften nach der Natur, nach der Anſchauung drängte, aber das Grundgeſetz, daß ſie nicht malen darf, als hätte ſie ein räumlich Feſtes vor ſich (vergl. §. 847), noch nicht begriffen hatte. Nun gab man Naturſchilderungen ohne Hand- lung; hiemit war der ideale Gehalt in das unorganiſche Verhältniß geſtellt, daß er nicht als immanente Bewegung in den Darſtellungsſtoff ſelbſt eindrang, daher als Lehre neben denſelben treten mußte, und ſo kann keine Frage ſein, daß Werke wie Thomſon’s Jahreszeiten, Brocke’s irdiſches Vergnügen in Gott, Haller’s Alpen, Kleiſt’s Frühling in das didaktiſche Gebiet ge- hören, und zwar des objectiven Charakters der Schilderung wegen in deſſen epiſche Sphäre. — Noch iſt kurz ein Ausläufer der Poeſie nach einer andern Art der Proſa, nämlich der hiſtoriſchen Wahrheit zu erwähnen: die Reimchronik, ein Werk der Kindheit der Geſchichtſchreibung im Mittel- alter; die Geſchichte iſt mit der Sage vermiſcht und ladet ſo zur Bearbeitung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/332>, abgerufen am 22.11.2024.