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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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durch bin ich streng an die Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert
alle Freiheit, es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir,
ich muß immer bei'm Objecte bleiben, alles Nachdenken ist mir versagt,
weil ich einer fremden Gewalt folge", und (S. 72): "der tragische Dichter
raubt uns unsere Gemüthsfreiheit, und indem er unsere Thätigkeit nach
einer einzigen Seite richtet und concentrirt, so vereinfacht er sich sein Ge-
schäft um Vieles und setzt sich in Vortheil, indem er uns in Nachtheil setzt".
Er nennt (S. 361) den dramatischen Weg den der strengen geraden Linie,
er sagt, Göthe werde genirt durch den Hinblick auf den Zweck des äußern
Eindrucks, der bei dieser Dichtungsart nicht ganz verlassen werde. Entgegen-
gesetzt urtheilt Aristoteles; er geht in seiner Werthvergleichung (Poet. C. 27)
ebenfalls vom Zugeständniß einer stoffartigen Wirkung des Drama aus,
schreibt jedoch diese nur der Leidenschaftlichkeit einer übertriebenen Mimik zu
und zieht dann das Drama vor, weil es Alles habe, was das Epos, und
in Musik und Scenerie noch mehr, sodann, weil es durch Erkennungen und
Handlungen lebendiger, ferner weil es kürzer, gedrängter sei "mit weniger
Zeit gemischt" (wobei das Bild gewässerten Weins zu Grunde liegt), und
endlich weil es mehr Einheit habe. In diesen treffenden Sätzen ist nur
unrichtig, daß die pathologische Wirkung blos auf Schuld der Schauspieler
geschrieben, nicht als eine dem Dichter selbst nahe liegende Gefahr einge-
räumt, und daß behauptet ist, das Drama habe ja noch mehr, als was das
Epos hat, seine Kürze und Gedrängtheit sei ein Gewinn ohne Einbuße.
Die pathologische Aufregung ist eine Klippe, die dem Drama vermöge seines
inneren Wesens nahe liegt, Musik und Scenerie ersetzt nicht, was das Epos
an klarer, entwickelter Zeichnung voraus hat, und das breitere, ausführlichere
Weltbild ist gegen das gedrängtere nicht ohne Weiteres zurückzusetzen, sondern
behält seinen Werth; Schiller hätte die letztere Seite ausdrücklich hervor-
heben dürfen. Dennoch, wenn wir die Sache im Mittelpuncte fassen, kann
kein Zweifel sein, daß das gedrängtere, zu straffer Einheit angezogene Welt-
bild trotz dem Verlust an anderer Schönheit höher ist, als das gedehnte und
entwickelte ohne energisch durchgreifende Einheit. Das Epos läßt unent-
schieden, was schließlich die Welt bestimme, das Drama entscheidet: es ist
der active und wesentlich imputable Geist. Wir haben von der Poesie
(§. 837, Anm.) gesagt, sie sei der gefrorne Wein des Lebens, das Bild
gilt im engsten Sinne vom Drama. Was nun das Pathologische der
Wirkung betrifft, so führt es auf den Dichter selbst und auf den Punct der
Gemüthsfreiheit, von welchem Schiller ausgeht. Der Dichter bewahrt sie
im Epos wie der Hörer oder Leser; im Drama scheint sie durch die Un-
mittelbarkeit der gegenwärtigen Wirkung und des Drängens nach dem Ziele
verloren zu gehen, ja in gewissem Sinne geht sie wirklich verloren, weicht
der Unruhe und Hast. Allein es gibt eine Ruhe in der Unruhe und der

durch bin ich ſtreng an die Gegenwart gefeſſelt, meine Phantaſie verliert
alle Freiheit, es entſteht und erhält ſich eine fortwährende Unruhe in mir,
ich muß immer bei’m Objecte bleiben, alles Nachdenken iſt mir verſagt,
weil ich einer fremden Gewalt folge“, und (S. 72): „der tragiſche Dichter
raubt uns unſere Gemüthsfreiheit, und indem er unſere Thätigkeit nach
einer einzigen Seite richtet und concentrirt, ſo vereinfacht er ſich ſein Ge-
ſchäft um Vieles und ſetzt ſich in Vortheil, indem er uns in Nachtheil ſetzt“.
Er nennt (S. 361) den dramatiſchen Weg den der ſtrengen geraden Linie,
er ſagt, Göthe werde genirt durch den Hinblick auf den Zweck des äußern
Eindrucks, der bei dieſer Dichtungsart nicht ganz verlaſſen werde. Entgegen-
geſetzt urtheilt Ariſtoteles; er geht in ſeiner Werthvergleichung (Poet. C. 27)
ebenfalls vom Zugeſtändniß einer ſtoffartigen Wirkung des Drama aus,
ſchreibt jedoch dieſe nur der Leidenſchaftlichkeit einer übertriebenen Mimik zu
und zieht dann das Drama vor, weil es Alles habe, was das Epos, und
in Muſik und Scenerie noch mehr, ſodann, weil es durch Erkennungen und
Handlungen lebendiger, ferner weil es kürzer, gedrängter ſei „mit weniger
Zeit gemiſcht“ (wobei das Bild gewäſſerten Weins zu Grunde liegt), und
endlich weil es mehr Einheit habe. In dieſen treffenden Sätzen iſt nur
unrichtig, daß die pathologiſche Wirkung blos auf Schuld der Schauſpieler
geſchrieben, nicht als eine dem Dichter ſelbſt nahe liegende Gefahr einge-
räumt, und daß behauptet iſt, das Drama habe ja noch mehr, als was das
Epos hat, ſeine Kürze und Gedrängtheit ſei ein Gewinn ohne Einbuße.
Die pathologiſche Aufregung iſt eine Klippe, die dem Drama vermöge ſeines
inneren Weſens nahe liegt, Muſik und Scenerie erſetzt nicht, was das Epos
an klarer, entwickelter Zeichnung voraus hat, und das breitere, ausführlichere
Weltbild iſt gegen das gedrängtere nicht ohne Weiteres zurückzuſetzen, ſondern
behält ſeinen Werth; Schiller hätte die letztere Seite ausdrücklich hervor-
heben dürfen. Dennoch, wenn wir die Sache im Mittelpuncte faſſen, kann
kein Zweifel ſein, daß das gedrängtere, zu ſtraffer Einheit angezogene Welt-
bild trotz dem Verluſt an anderer Schönheit höher iſt, als das gedehnte und
entwickelte ohne energiſch durchgreifende Einheit. Das Epos läßt unent-
ſchieden, was ſchließlich die Welt beſtimme, das Drama entſcheidet: es iſt
der active und weſentlich imputable Geiſt. Wir haben von der Poeſie
(§. 837, Anm.) geſagt, ſie ſei der gefrorne Wein des Lebens, das Bild
gilt im engſten Sinne vom Drama. Was nun das Pathologiſche der
Wirkung betrifft, ſo führt es auf den Dichter ſelbſt und auf den Punct der
Gemüthsfreiheit, von welchem Schiller ausgeht. Der Dichter bewahrt ſie
im Epos wie der Hörer oder Leſer; im Drama ſcheint ſie durch die Un-
mittelbarkeit der gegenwärtigen Wirkung und des Drängens nach dem Ziele
verloren zu gehen, ja in gewiſſem Sinne geht ſie wirklich verloren, weicht
der Unruhe und Haſt. Allein es gibt eine Ruhe in der Unruhe und der

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[1404/0268] durch bin ich ſtreng an die Gegenwart gefeſſelt, meine Phantaſie verliert alle Freiheit, es entſteht und erhält ſich eine fortwährende Unruhe in mir, ich muß immer bei’m Objecte bleiben, alles Nachdenken iſt mir verſagt, weil ich einer fremden Gewalt folge“, und (S. 72): „der tragiſche Dichter raubt uns unſere Gemüthsfreiheit, und indem er unſere Thätigkeit nach einer einzigen Seite richtet und concentrirt, ſo vereinfacht er ſich ſein Ge- ſchäft um Vieles und ſetzt ſich in Vortheil, indem er uns in Nachtheil ſetzt“. Er nennt (S. 361) den dramatiſchen Weg den der ſtrengen geraden Linie, er ſagt, Göthe werde genirt durch den Hinblick auf den Zweck des äußern Eindrucks, der bei dieſer Dichtungsart nicht ganz verlaſſen werde. Entgegen- geſetzt urtheilt Ariſtoteles; er geht in ſeiner Werthvergleichung (Poet. C. 27) ebenfalls vom Zugeſtändniß einer ſtoffartigen Wirkung des Drama aus, ſchreibt jedoch dieſe nur der Leidenſchaftlichkeit einer übertriebenen Mimik zu und zieht dann das Drama vor, weil es Alles habe, was das Epos, und in Muſik und Scenerie noch mehr, ſodann, weil es durch Erkennungen und Handlungen lebendiger, ferner weil es kürzer, gedrängter ſei „mit weniger Zeit gemiſcht“ (wobei das Bild gewäſſerten Weins zu Grunde liegt), und endlich weil es mehr Einheit habe. In dieſen treffenden Sätzen iſt nur unrichtig, daß die pathologiſche Wirkung blos auf Schuld der Schauſpieler geſchrieben, nicht als eine dem Dichter ſelbſt nahe liegende Gefahr einge- räumt, und daß behauptet iſt, das Drama habe ja noch mehr, als was das Epos hat, ſeine Kürze und Gedrängtheit ſei ein Gewinn ohne Einbuße. Die pathologiſche Aufregung iſt eine Klippe, die dem Drama vermöge ſeines inneren Weſens nahe liegt, Muſik und Scenerie erſetzt nicht, was das Epos an klarer, entwickelter Zeichnung voraus hat, und das breitere, ausführlichere Weltbild iſt gegen das gedrängtere nicht ohne Weiteres zurückzuſetzen, ſondern behält ſeinen Werth; Schiller hätte die letztere Seite ausdrücklich hervor- heben dürfen. Dennoch, wenn wir die Sache im Mittelpuncte faſſen, kann kein Zweifel ſein, daß das gedrängtere, zu ſtraffer Einheit angezogene Welt- bild trotz dem Verluſt an anderer Schönheit höher iſt, als das gedehnte und entwickelte ohne energiſch durchgreifende Einheit. Das Epos läßt unent- ſchieden, was ſchließlich die Welt beſtimme, das Drama entſcheidet: es iſt der active und weſentlich imputable Geiſt. Wir haben von der Poeſie (§. 837, Anm.) geſagt, ſie ſei der gefrorne Wein des Lebens, das Bild gilt im engſten Sinne vom Drama. Was nun das Pathologiſche der Wirkung betrifft, ſo führt es auf den Dichter ſelbſt und auf den Punct der Gemüthsfreiheit, von welchem Schiller ausgeht. Der Dichter bewahrt ſie im Epos wie der Hörer oder Leſer; im Drama ſcheint ſie durch die Un- mittelbarkeit der gegenwärtigen Wirkung und des Drängens nach dem Ziele verloren zu gehen, ja in gewiſſem Sinne geht ſie wirklich verloren, weicht der Unruhe und Haſt. Allein es gibt eine Ruhe in der Unruhe und der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/268>, abgerufen am 21.11.2024.