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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine
Handlung ist wesentlich ein Kampf und dieser setzt Hindernisse voraus.
Der intensiven Stetigkeit nach hat es also mehr Hemmung, als das Epos.
Dagegen fällt in der Darstellungsform weg, was Göthe die rückwärts
schreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem
Inhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter sinnlicher Retar-
dationen auf, wie Seefahrten, Reisen u. s. w., welche im Drama diese Rolle
nicht spielen können; seine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens.
Das Wesentliche ist nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im
Drama unendlich stärker ist, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet
unaufhaltsam vorwärts bis zum Umschwung. Wie treibt es Schlag auf
Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche absolute Gravitation bis zum
Schwindel ist in dieser Bewegung! Hier blicken wir zunächst wieder auf
den Charakter zurück: die Hauptaufgabe ist das Wachsen und Anschwellen
der Leidenschaft und vielleicht das schlagendste Beispiel die Vergiftung von
Othello's Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten:
"ha! das gefällt mir nicht" ihm den ersten, feinen Gifttropfen einspritzt,
bis zu dem wahnsinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unseligen That, die
aus ihm fließt. Allein es schwillt gegen das Streben, das den positiven
Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was
freilich in solchen Dramen, die auf politischem Boden spielen, sichtbarer vor-
liegt, als in diesem Bilde der Leidenschaft, wo der schließliche Gegner die
drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit ist; so im Jul.
Cäsar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenstein; der Held wirft zuerst
die aufsteigenden Hindernisse nieder, dann aber zeigt sich, daß diese in
stetem Druck, wie eine zusammenpressende Maschine, siegreich vorrücken,
wiewohl ihre Organe im Sieg auch sich selbst Leiden bereiten. Es ist also
eine ironische Doppelbewegung. Im Hamlet hat es der Dichter gewagt,
den Helden selbst als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarsten
Vorwürfen gegen sich selbst zaudernden Charakter zu halten, und die schwere
Aufgabe bewundernswerth so gelöst, daß der anwachsende, durch seine Halb-
mittel genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum
ganzen Handeln bringt, wo er schon verloren ist. Eine so unerbittlich fort-
schreitende Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von selbst,
daß diese nach der andern Seite die Wirkung derselben erhöhen; es verhält
sich genau wie mit den Pausen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99):
die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und gespannte Erwartung
sieht vorwärts auf das, was sie vorbereiten; ihre Ruhe verstärkt den Ein-
druck der vorhergehenden und folgenden Unruhe, sie gehören also ebensosehr
zu den Contrasten. Ein solcher Ruhepunct ist im Makbeth die in anderem
Zusammenhang schon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß seines

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 90

Das Drama iſt eigentlich eine Kette von Retardationen, denn ſeine
Handlung iſt weſentlich ein Kampf und dieſer ſetzt Hinderniſſe voraus.
Der intenſiven Stetigkeit nach hat es alſo mehr Hemmung, als das Epos.
Dagegen fällt in der Darſtellungsform weg, was Göthe die rückwärts
ſchreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem
Inhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter ſinnlicher Retar-
dationen auf, wie Seefahrten, Reiſen u. ſ. w., welche im Drama dieſe Rolle
nicht ſpielen können; ſeine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens.
Das Weſentliche iſt nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im
Drama unendlich ſtärker iſt, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet
unaufhaltſam vorwärts bis zum Umſchwung. Wie treibt es Schlag auf
Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche abſolute Gravitation bis zum
Schwindel iſt in dieſer Bewegung! Hier blicken wir zunächſt wieder auf
den Charakter zurück: die Hauptaufgabe iſt das Wachſen und Anſchwellen
der Leidenſchaft und vielleicht das ſchlagendſte Beiſpiel die Vergiftung von
Othello’s Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten:
„ha! das gefällt mir nicht“ ihm den erſten, feinen Gifttropfen einſpritzt,
bis zu dem wahnſinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unſeligen That, die
aus ihm fließt. Allein es ſchwillt gegen das Streben, das den poſitiven
Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was
freilich in ſolchen Dramen, die auf politiſchem Boden ſpielen, ſichtbarer vor-
liegt, als in dieſem Bilde der Leidenſchaft, wo der ſchließliche Gegner die
drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit iſt; ſo im Jul.
Cäſar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenſtein; der Held wirft zuerſt
die aufſteigenden Hinderniſſe nieder, dann aber zeigt ſich, daß dieſe in
ſtetem Druck, wie eine zuſammenpreſſende Maſchine, ſiegreich vorrücken,
wiewohl ihre Organe im Sieg auch ſich ſelbſt Leiden bereiten. Es iſt alſo
eine ironiſche Doppelbewegung. Im Hamlet hat es der Dichter gewagt,
den Helden ſelbſt als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarſten
Vorwürfen gegen ſich ſelbſt zaudernden Charakter zu halten, und die ſchwere
Aufgabe bewundernswerth ſo gelöst, daß der anwachſende, durch ſeine Halb-
mittel genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum
ganzen Handeln bringt, wo er ſchon verloren iſt. Eine ſo unerbittlich fort-
ſchreitende Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von ſelbſt,
daß dieſe nach der andern Seite die Wirkung derſelben erhöhen; es verhält
ſich genau wie mit den Pauſen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99):
die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und geſpannte Erwartung
ſieht vorwärts auf das, was ſie vorbereiten; ihre Ruhe verſtärkt den Ein-
druck der vorhergehenden und folgenden Unruhe, ſie gehören alſo ebenſoſehr
zu den Contraſten. Ein ſolcher Ruhepunct iſt im Makbeth die in anderem
Zuſammenhang ſchon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß ſeines

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 90
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[1399/0263] Das Drama iſt eigentlich eine Kette von Retardationen, denn ſeine Handlung iſt weſentlich ein Kampf und dieſer ſetzt Hinderniſſe voraus. Der intenſiven Stetigkeit nach hat es alſo mehr Hemmung, als das Epos. Dagegen fällt in der Darſtellungsform weg, was Göthe die rückwärts ſchreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem Inhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter ſinnlicher Retar- dationen auf, wie Seefahrten, Reiſen u. ſ. w., welche im Drama dieſe Rolle nicht ſpielen können; ſeine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens. Das Weſentliche iſt nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im Drama unendlich ſtärker iſt, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet unaufhaltſam vorwärts bis zum Umſchwung. Wie treibt es Schlag auf Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche abſolute Gravitation bis zum Schwindel iſt in dieſer Bewegung! Hier blicken wir zunächſt wieder auf den Charakter zurück: die Hauptaufgabe iſt das Wachſen und Anſchwellen der Leidenſchaft und vielleicht das ſchlagendſte Beiſpiel die Vergiftung von Othello’s Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten: „ha! das gefällt mir nicht“ ihm den erſten, feinen Gifttropfen einſpritzt, bis zu dem wahnſinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unſeligen That, die aus ihm fließt. Allein es ſchwillt gegen das Streben, das den poſitiven Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was freilich in ſolchen Dramen, die auf politiſchem Boden ſpielen, ſichtbarer vor- liegt, als in dieſem Bilde der Leidenſchaft, wo der ſchließliche Gegner die drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit iſt; ſo im Jul. Cäſar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenſtein; der Held wirft zuerſt die aufſteigenden Hinderniſſe nieder, dann aber zeigt ſich, daß dieſe in ſtetem Druck, wie eine zuſammenpreſſende Maſchine, ſiegreich vorrücken, wiewohl ihre Organe im Sieg auch ſich ſelbſt Leiden bereiten. Es iſt alſo eine ironiſche Doppelbewegung. Im Hamlet hat es der Dichter gewagt, den Helden ſelbſt als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarſten Vorwürfen gegen ſich ſelbſt zaudernden Charakter zu halten, und die ſchwere Aufgabe bewundernswerth ſo gelöst, daß der anwachſende, durch ſeine Halb- mittel genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum ganzen Handeln bringt, wo er ſchon verloren iſt. Eine ſo unerbittlich fort- ſchreitende Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von ſelbſt, daß dieſe nach der andern Seite die Wirkung derſelben erhöhen; es verhält ſich genau wie mit den Pauſen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99): die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und geſpannte Erwartung ſieht vorwärts auf das, was ſie vorbereiten; ihre Ruhe verſtärkt den Ein- druck der vorhergehenden und folgenden Unruhe, ſie gehören alſo ebenſoſehr zu den Contraſten. Ein ſolcher Ruhepunct iſt im Makbeth die in anderem Zuſammenhang ſchon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß ſeines Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 90

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/263>, abgerufen am 25.11.2024.