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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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aufgeführt werden können, denn der traumhaften Thätigkeit dieser Phantasie
mußte es allerdings ganz besonders zusagen (Indien, Persien, Arabien;
Tausend und Eine Nacht); auch hat das Mittelalter, das ja vielfach unter
orientalem Einflusse sein Ideal ausbildete, keinen kleinen Theil seines
Mährchenstoffs durch verschlungene Vermittlungen aus dieser Quelle ge-
schöpft. Das Wesen dieser phantastischen kleinen Nebenform des Epos
besteht darin, daß die unreife Vorgängerinn der Phantasie, die Einbildungs-
kraft (vergl. §. 388 ff.) in Bewegung und Geltung gesetzt wird, um ein
Weltbild zu schaffen, in welchem das Naturgesetz zu Gunsten des Begriffs
des Gutes sich lüftet. Das Gut im Unterschiede vom Guten ist Grund-
Inhalt des Mährchens. Die Natur wird flüssig und kommt dem Wunsch
entgegen, der Mensch bewegt sich frei von "den Bedingungen, zwischen
welche er eingeklemmt ist" (Göthe). Wir haben in der Anm. 1. zu §. 389
diese Bedeutung der Einbildungskraft, die nun von der dichtenden Phantasie
approbirt und aufgenommen wird, bereits hervorgehoben. Allerdings zieht
sich nun in den Begriff des Gutes auch der des Guten herein. Das
Wunder, das hier das Natürliche geworden ist, bestraft den Bösen, belohnt
den Guten, die leidende Unschuld; auch ahnt das Mährchen, daß die Vor-
stellung, es möchte in unserer Macht stehen, die Naturgesetze zu brechen,
um unmittelbar unsere Einfälle und Wünsche zu verwirklichen, eigentlich
der Willkür angehört, die zum Bösen führt, daher feindliche Zauberer und
Zauberkräfte eine finstere Rolle in ihm spielen, allein ohne Consequenz,
denn diese böse Magie wird selbst durch Magie besiegt und bestraft. Das
Wunder kommt nun wohl gerne dem verfolgten Guten zu Hülfe, doch
nicht sowohl der thätigen, männlichen Tugend, als vielmehr der kindlichen
Unschuld, Gutmüthigkeit, dem holden Leichtsinn und der lustigen Schalkheit,
besonders gern aber der rührenden, schönen, poetischen Dummheit, in welcher
ein Göttliches, eine große Anlage dunkel schlummert; es handelt sich also
immer mehr von Glück, als von Verdienst, es soll dem Menschen einmal
wohl sein, er soll wie im glücklichen Traume vergessen, daß das Leben
ein schweißvoller Kampf mit unerbittlichen Gesetzen ist. Der ahnungsvolle,
geisterhafte Hauch vereinigt sich daher gerne mit dem Humor. Die wunder-
thätigen Mächte sind vielfach als Trümmer des Mythus, depotenzirte
Götter zu erkennen, doch darf dieß nicht als allgemein und durchgängig
behauptet werden, wie z. B. von Wackernagel (Schweiz. Mus. f. histor.
Wiss. B. 1, S. 352 ff.). -- Das Mährchen ist keine Spezialität wie die
Legende, sondern allgemein menschlich, daher jedem Zeitalter angehörig.
Es gedeiht aber nicht in der Kunstpoesie, seine wahre Heimath ist die
Phantasie des Volkes, es ist wesentlich naiv und gehört so als spielende
Arabeske streng an den Stamm des ächten Epos. In der modernen Dichtung,
die am entschiedensten Kunstpoesie ist, kann es daher nur vereinzelt den

aufgeführt werden können, denn der traumhaften Thätigkeit dieſer Phantaſie
mußte es allerdings ganz beſonders zuſagen (Indien, Perſien, Arabien;
Tauſend und Eine Nacht); auch hat das Mittelalter, das ja vielfach unter
orientalem Einfluſſe ſein Ideal ausbildete, keinen kleinen Theil ſeines
Mährchenſtoffs durch verſchlungene Vermittlungen aus dieſer Quelle ge-
ſchöpft. Das Weſen dieſer phantaſtiſchen kleinen Nebenform des Epos
beſteht darin, daß die unreife Vorgängerinn der Phantaſie, die Einbildungs-
kraft (vergl. §. 388 ff.) in Bewegung und Geltung geſetzt wird, um ein
Weltbild zu ſchaffen, in welchem das Naturgeſetz zu Gunſten des Begriffs
des Gutes ſich lüftet. Das Gut im Unterſchiede vom Guten iſt Grund-
Inhalt des Mährchens. Die Natur wird flüſſig und kommt dem Wunſch
entgegen, der Menſch bewegt ſich frei von „den Bedingungen, zwiſchen
welche er eingeklemmt iſt“ (Göthe). Wir haben in der Anm. 1. zu §. 389
dieſe Bedeutung der Einbildungskraft, die nun von der dichtenden Phantaſie
approbirt und aufgenommen wird, bereits hervorgehoben. Allerdings zieht
ſich nun in den Begriff des Gutes auch der des Guten herein. Das
Wunder, das hier das Natürliche geworden iſt, beſtraft den Böſen, belohnt
den Guten, die leidende Unſchuld; auch ahnt das Mährchen, daß die Vor-
ſtellung, es möchte in unſerer Macht ſtehen, die Naturgeſetze zu brechen,
um unmittelbar unſere Einfälle und Wünſche zu verwirklichen, eigentlich
der Willkür angehört, die zum Böſen führt, daher feindliche Zauberer und
Zauberkräfte eine finſtere Rolle in ihm ſpielen, allein ohne Conſequenz,
denn dieſe böſe Magie wird ſelbſt durch Magie beſiegt und beſtraft. Das
Wunder kommt nun wohl gerne dem verfolgten Guten zu Hülfe, doch
nicht ſowohl der thätigen, männlichen Tugend, als vielmehr der kindlichen
Unſchuld, Gutmüthigkeit, dem holden Leichtſinn und der luſtigen Schalkheit,
beſonders gern aber der rührenden, ſchönen, poetiſchen Dummheit, in welcher
ein Göttliches, eine große Anlage dunkel ſchlummert; es handelt ſich alſo
immer mehr von Glück, als von Verdienſt, es ſoll dem Menſchen einmal
wohl ſein, er ſoll wie im glücklichen Traume vergeſſen, daß das Leben
ein ſchweißvoller Kampf mit unerbittlichen Geſetzen iſt. Der ahnungsvolle,
geiſterhafte Hauch vereinigt ſich daher gerne mit dem Humor. Die wunder-
thätigen Mächte ſind vielfach als Trümmer des Mythus, depotenzirte
Götter zu erkennen, doch darf dieß nicht als allgemein und durchgängig
behauptet werden, wie z. B. von Wackernagel (Schweiz. Muſ. f. hiſtor.
Wiſſ. B. 1, S. 352 ff.). — Das Mährchen iſt keine Spezialität wie die
Legende, ſondern allgemein menſchlich, daher jedem Zeitalter angehörig.
Es gedeiht aber nicht in der Kunſtpoeſie, ſeine wahre Heimath iſt die
Phantaſie des Volkes, es iſt weſentlich naiv und gehört ſo als ſpielende
Arabeske ſtreng an den Stamm des ächten Epos. In der modernen Dichtung,
die am entſchiedenſten Kunſtpoeſie iſt, kann es daher nur vereinzelt den

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[1299/0163] aufgeführt werden können, denn der traumhaften Thätigkeit dieſer Phantaſie mußte es allerdings ganz beſonders zuſagen (Indien, Perſien, Arabien; Tauſend und Eine Nacht); auch hat das Mittelalter, das ja vielfach unter orientalem Einfluſſe ſein Ideal ausbildete, keinen kleinen Theil ſeines Mährchenſtoffs durch verſchlungene Vermittlungen aus dieſer Quelle ge- ſchöpft. Das Weſen dieſer phantaſtiſchen kleinen Nebenform des Epos beſteht darin, daß die unreife Vorgängerinn der Phantaſie, die Einbildungs- kraft (vergl. §. 388 ff.) in Bewegung und Geltung geſetzt wird, um ein Weltbild zu ſchaffen, in welchem das Naturgeſetz zu Gunſten des Begriffs des Gutes ſich lüftet. Das Gut im Unterſchiede vom Guten iſt Grund- Inhalt des Mährchens. Die Natur wird flüſſig und kommt dem Wunſch entgegen, der Menſch bewegt ſich frei von „den Bedingungen, zwiſchen welche er eingeklemmt iſt“ (Göthe). Wir haben in der Anm. 1. zu §. 389 dieſe Bedeutung der Einbildungskraft, die nun von der dichtenden Phantaſie approbirt und aufgenommen wird, bereits hervorgehoben. Allerdings zieht ſich nun in den Begriff des Gutes auch der des Guten herein. Das Wunder, das hier das Natürliche geworden iſt, beſtraft den Böſen, belohnt den Guten, die leidende Unſchuld; auch ahnt das Mährchen, daß die Vor- ſtellung, es möchte in unſerer Macht ſtehen, die Naturgeſetze zu brechen, um unmittelbar unſere Einfälle und Wünſche zu verwirklichen, eigentlich der Willkür angehört, die zum Böſen führt, daher feindliche Zauberer und Zauberkräfte eine finſtere Rolle in ihm ſpielen, allein ohne Conſequenz, denn dieſe böſe Magie wird ſelbſt durch Magie beſiegt und beſtraft. Das Wunder kommt nun wohl gerne dem verfolgten Guten zu Hülfe, doch nicht ſowohl der thätigen, männlichen Tugend, als vielmehr der kindlichen Unſchuld, Gutmüthigkeit, dem holden Leichtſinn und der luſtigen Schalkheit, beſonders gern aber der rührenden, ſchönen, poetiſchen Dummheit, in welcher ein Göttliches, eine große Anlage dunkel ſchlummert; es handelt ſich alſo immer mehr von Glück, als von Verdienſt, es ſoll dem Menſchen einmal wohl ſein, er ſoll wie im glücklichen Traume vergeſſen, daß das Leben ein ſchweißvoller Kampf mit unerbittlichen Geſetzen iſt. Der ahnungsvolle, geiſterhafte Hauch vereinigt ſich daher gerne mit dem Humor. Die wunder- thätigen Mächte ſind vielfach als Trümmer des Mythus, depotenzirte Götter zu erkennen, doch darf dieß nicht als allgemein und durchgängig behauptet werden, wie z. B. von Wackernagel (Schweiz. Muſ. f. hiſtor. Wiſſ. B. 1, S. 352 ff.). — Das Mährchen iſt keine Spezialität wie die Legende, ſondern allgemein menſchlich, daher jedem Zeitalter angehörig. Es gedeiht aber nicht in der Kunſtpoeſie, ſeine wahre Heimath iſt die Phantaſie des Volkes, es iſt weſentlich naiv und gehört ſo als ſpielende Arabeske ſtreng an den Stamm des ächten Epos. In der modernen Dichtung, die am entſchiedenſten Kunſtpoeſie iſt, kann es daher nur vereinzelt den

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/163>, abgerufen am 03.05.2024.