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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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bedacht und zu harmonischen Gruppen ohne wilden Riß vereinigt. Das Gesetz
der Motivirung steht natürlich nicht außer Zusammenhang mit dem Inhalt,
es fordert Ableitung des Einzelnen aus genügenden Ursachen und Trieb-
federn, allein das Verhältniß der rein künstlerischen Bindung zur Bindung des
Inhalts ist ein freieres, als wir es im Drama finden werden; der Faden
mag schwach sein, wenn ihn nur der Dichter schön knüpft, die Causalität
im Einzelnen eine lose, wenn nur der Eindruck einer allgemeinen Welt-
Causalität durch die Behandlung des Ganzen gesichert ist. Wir haben dem
Zufalle großen Spielraum gelassen (§. 868); der Dichter wird ihn so ein-
führen, daß er, obwohl an sich zunächst unmotivirt, sich doch ruhig und
elastisch in den Zusammenhang einfügt. Hier ist also kein Widerspruch; eher
scheint ein solcher zu entstehen durch die andern Momente des Compositions-
gesetzes, die der §. zunächst folgen läßt, denn sie führen in gewissem Sinne
zu einer Zerschneidung des Bandes zwischen den Theilen. Der epische
Dichter hat mit einem successiven Mittel das Zeitliche nach mehreren Dimen-
sionen darzustellen, er muß daher den Faden oft abbrechen, um nachzuholen,
was gleichzeitig mit dem eben Erzählten oder vor der Zeit, in welcher wir
uns befinden, geschehen ist ("rückwärtsschreitende Motive" Göthe im Briefw.
mit Sch. Th. 3, S. 376); er bewegt sich in einem ungemein breiten Raume und
muß uns daher oft in einem Sprunge von dem einen Ort in den andern
versetzen, von den Freiern zu dem reisenden Telemach, von diesem zu
Odysseus bei den Phäaken u. s. w. Der innere Gang der Handlung ferner
ist nach allem schon Ausgeführten ein zögernder, der in eine Masse von
Mithandelnden, von Bedingungen der Natur und Cultur hineingestellte
Mensch begegnet vielen Hemmnissen ("die retardirenden Motive", von Göthe
a. a. O. ungenau der dramatischen und epischen Dichtung in gleichem Maaße
zugeschrieben). Die Odyssee und Gudrun sind ihrer ganzen Composition
nach vorzüglich auf Hemmungen gebaut (vgl. Zimmermann über d. Begr.
d. Epos S. 120). Es liegt aber tiefer und allgemeiner im ganzen Stand-
puncte, daß der Dichter oft stehen bleibt, oft Seitenwege einschlägt, denn
wir haben gesehen, daß im Grunde alles tüchtige Dasein ihm gleich in-
teressant ist; der dramatische Dichter geht straff gerade aus und wirft rasch
nieder, was ihm im Weg ist, der epische gleicht dem Lustwandler, der sich
überall aufhält; "Selbständigkeit der Theile macht einen Hauptcharakter
des epischen Gedichtes aus (Schiller a. a. O. S. 73). Es entspringen
daraus Bestandtheile, welche von der Handlung nicht streng gefordert sind,
und so ergibt sich die große Rolle, welche im Epos die Episode spielt.
Wir müssen zu ihr auch die Ausführlichkeit der Vergleichungen zählen.
Wir haben in §. 854 Anm. die epische Vergleichung charakterisirt. In ihrer
ruhigen Objectivität liebt sie es, sich in einem Grade zu entwickeln, der
weit über den Vergleichungszweck hinausgeht. Allein dieß Alles hebt in

bedacht und zu harmoniſchen Gruppen ohne wilden Riß vereinigt. Das Geſetz
der Motivirung ſteht natürlich nicht außer Zuſammenhang mit dem Inhalt,
es fordert Ableitung des Einzelnen aus genügenden Urſachen und Trieb-
federn, allein das Verhältniß der rein künſtleriſchen Bindung zur Bindung des
Inhalts iſt ein freieres, als wir es im Drama finden werden; der Faden
mag ſchwach ſein, wenn ihn nur der Dichter ſchön knüpft, die Cauſalität
im Einzelnen eine loſe, wenn nur der Eindruck einer allgemeinen Welt-
Cauſalität durch die Behandlung des Ganzen geſichert iſt. Wir haben dem
Zufalle großen Spielraum gelaſſen (§. 868); der Dichter wird ihn ſo ein-
führen, daß er, obwohl an ſich zunächſt unmotivirt, ſich doch ruhig und
elaſtiſch in den Zuſammenhang einfügt. Hier iſt alſo kein Widerſpruch; eher
ſcheint ein ſolcher zu entſtehen durch die andern Momente des Compoſitions-
geſetzes, die der §. zunächſt folgen läßt, denn ſie führen in gewiſſem Sinne
zu einer Zerſchneidung des Bandes zwiſchen den Theilen. Der epiſche
Dichter hat mit einem ſucceſſiven Mittel das Zeitliche nach mehreren Dimen-
ſionen darzuſtellen, er muß daher den Faden oft abbrechen, um nachzuholen,
was gleichzeitig mit dem eben Erzählten oder vor der Zeit, in welcher wir
uns befinden, geſchehen iſt („rückwärtsſchreitende Motive“ Göthe im Briefw.
mit Sch. Th. 3, S. 376); er bewegt ſich in einem ungemein breiten Raume und
muß uns daher oft in einem Sprunge von dem einen Ort in den andern
verſetzen, von den Freiern zu dem reiſenden Telemach, von dieſem zu
Odyſſeus bei den Phäaken u. ſ. w. Der innere Gang der Handlung ferner
iſt nach allem ſchon Ausgeführten ein zögernder, der in eine Maſſe von
Mithandelnden, von Bedingungen der Natur und Cultur hineingeſtellte
Menſch begegnet vielen Hemmniſſen („die retardirenden Motive“, von Göthe
a. a. O. ungenau der dramatiſchen und epiſchen Dichtung in gleichem Maaße
zugeſchrieben). Die Odyſſee und Gudrun ſind ihrer ganzen Compoſition
nach vorzüglich auf Hemmungen gebaut (vgl. Zimmermann über d. Begr.
d. Epos S. 120). Es liegt aber tiefer und allgemeiner im ganzen Stand-
puncte, daß der Dichter oft ſtehen bleibt, oft Seitenwege einſchlägt, denn
wir haben geſehen, daß im Grunde alles tüchtige Daſein ihm gleich in-
tereſſant iſt; der dramatiſche Dichter geht ſtraff gerade aus und wirft raſch
nieder, was ihm im Weg iſt, der epiſche gleicht dem Luſtwandler, der ſich
überall aufhält; „Selbſtändigkeit der Theile macht einen Hauptcharakter
des epiſchen Gedichtes aus (Schiller a. a. O. S. 73). Es entſpringen
daraus Beſtandtheile, welche von der Handlung nicht ſtreng gefordert ſind,
und ſo ergibt ſich die große Rolle, welche im Epos die Epiſode ſpielt.
Wir müſſen zu ihr auch die Ausführlichkeit der Vergleichungen zählen.
Wir haben in §. 854 Anm. die epiſche Vergleichung charakteriſirt. In ihrer
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[1279/0143] bedacht und zu harmoniſchen Gruppen ohne wilden Riß vereinigt. Das Geſetz der Motivirung ſteht natürlich nicht außer Zuſammenhang mit dem Inhalt, es fordert Ableitung des Einzelnen aus genügenden Urſachen und Trieb- federn, allein das Verhältniß der rein künſtleriſchen Bindung zur Bindung des Inhalts iſt ein freieres, als wir es im Drama finden werden; der Faden mag ſchwach ſein, wenn ihn nur der Dichter ſchön knüpft, die Cauſalität im Einzelnen eine loſe, wenn nur der Eindruck einer allgemeinen Welt- Cauſalität durch die Behandlung des Ganzen geſichert iſt. Wir haben dem Zufalle großen Spielraum gelaſſen (§. 868); der Dichter wird ihn ſo ein- führen, daß er, obwohl an ſich zunächſt unmotivirt, ſich doch ruhig und elaſtiſch in den Zuſammenhang einfügt. Hier iſt alſo kein Widerſpruch; eher ſcheint ein ſolcher zu entſtehen durch die andern Momente des Compoſitions- geſetzes, die der §. zunächſt folgen läßt, denn ſie führen in gewiſſem Sinne zu einer Zerſchneidung des Bandes zwiſchen den Theilen. Der epiſche Dichter hat mit einem ſucceſſiven Mittel das Zeitliche nach mehreren Dimen- ſionen darzuſtellen, er muß daher den Faden oft abbrechen, um nachzuholen, was gleichzeitig mit dem eben Erzählten oder vor der Zeit, in welcher wir uns befinden, geſchehen iſt („rückwärtsſchreitende Motive“ Göthe im Briefw. mit Sch. Th. 3, S. 376); er bewegt ſich in einem ungemein breiten Raume und muß uns daher oft in einem Sprunge von dem einen Ort in den andern verſetzen, von den Freiern zu dem reiſenden Telemach, von dieſem zu Odyſſeus bei den Phäaken u. ſ. w. Der innere Gang der Handlung ferner iſt nach allem ſchon Ausgeführten ein zögernder, der in eine Maſſe von Mithandelnden, von Bedingungen der Natur und Cultur hineingeſtellte Menſch begegnet vielen Hemmniſſen („die retardirenden Motive“, von Göthe a. a. O. ungenau der dramatiſchen und epiſchen Dichtung in gleichem Maaße zugeſchrieben). Die Odyſſee und Gudrun ſind ihrer ganzen Compoſition nach vorzüglich auf Hemmungen gebaut (vgl. Zimmermann über d. Begr. d. Epos S. 120). Es liegt aber tiefer und allgemeiner im ganzen Stand- puncte, daß der Dichter oft ſtehen bleibt, oft Seitenwege einſchlägt, denn wir haben geſehen, daß im Grunde alles tüchtige Daſein ihm gleich in- tereſſant iſt; der dramatiſche Dichter geht ſtraff gerade aus und wirft raſch nieder, was ihm im Weg iſt, der epiſche gleicht dem Luſtwandler, der ſich überall aufhält; „Selbſtändigkeit der Theile macht einen Hauptcharakter des epiſchen Gedichtes aus (Schiller a. a. O. S. 73). Es entſpringen daraus Beſtandtheile, welche von der Handlung nicht ſtreng gefordert ſind, und ſo ergibt ſich die große Rolle, welche im Epos die Epiſode ſpielt. Wir müſſen zu ihr auch die Ausführlichkeit der Vergleichungen zählen. Wir haben in §. 854 Anm. die epiſche Vergleichung charakteriſirt. In ihrer ruhigen Objectivität liebt ſie es, ſich in einem Grade zu entwickeln, der weit über den Vergleichungszweck hinausgeht. Allein dieß Alles hebt in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/143>, abgerufen am 03.05.2024.