accent-, als quantitäts-mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäste, aber sie können aus diesem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken Metren, denen sie angehören, gebraucht werden, sie sind beliebt im springen- den Balladen-Versmaaß, aber zwischen Jamben oder Trochäen eingefaßt, und diese einfachen Formen sind die herrschenden. Die schon erwähnte Menge einsylbiger Wörter bereitet nun spezieller dadurch große Schwierig- keiten gegen consequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieselben doch dem Gehalte nach großentheils bedeutend sind, daß dieser in umgekehrtem Verhältniß zu ihrem Körper steht, daß sie sich daher gegen die Einfügung in die antiken Verse, namentlich die längeren, sträuben: "ein mit ihnen gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erscheinen" (Grundriß der Metrik antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).
3. Den Reim haben wir mehrfach einen Ersatz für den Verlust der strengen Gesetzmäßigkeit des metrisch Rhythmischen genannt. Er tritt am Schlusse des Verses ein, und dieß eben ist recht ein Ausdruck davon, daß hier im Verskörper selbst noch etwas fehlt, vermißt, gesucht wird, das denn als Extremität, als Einfassung seinen Gliedern erst den fehlenden organischen Halt gibt. Er kann auch die rhythmischen Reihen durchschneiden und so in mehrere Zeilen zerfällen; dadurch ist er eine Quelle der reichsten Mannig- faltigkeit in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr neuer Art in die poetische Formbildung ein. Vergleicht man dieselbe mit den anderen Künsten, so erinnert sie in der Architektur an den gothischen Styl: dieser liebt das geometrische Spiel der Stellungen, Umstellungen, des symmetrischen Gegenüber krystallinisch gebundener, aber ohne strengen Zusammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente schwelgender Formen, während der classische seine keusch gesparten Ausschmückungen mit streng organischem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der Unterschied zwischen normal rhythmischer Schönheit und zwischen Reimschmuck bei zerworfenen Verhältnissen der letzteren entspricht auf's Einleuchtendste diesem architektonischen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei: es ist tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an Klänge und bei diesen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter individualisirende Farbe bringt ganz ebenso das Element einer neuen Quali- fication zu der festen Form, die sich in der Sculptur isolirt, wie der Reim zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächsten aber liegt der Blick in das eng benachbarte musikalische Gebiet: der Klang des Worts, wie er im Reime technisch verwendet wird, daher als solcher ausdrücklich in's Gehör fällt, ist tief verwandt mit der Klangfarbe der ver- schiedenen Instrumente. Gleichzeitig ertönend bringen diese die Harmonie hervor; der successive Eindruck der Reime tönt noch ungleich bestimmter, als die wiederkehrenden Zeilen in reimlosen Strophen, wie eine gleichzeitige
accent-, als quantitäts-mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäſte, aber ſie können aus dieſem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken Metren, denen ſie angehören, gebraucht werden, ſie ſind beliebt im ſpringen- den Balladen-Versmaaß, aber zwiſchen Jamben oder Trochäen eingefaßt, und dieſe einfachen Formen ſind die herrſchenden. Die ſchon erwähnte Menge einſylbiger Wörter bereitet nun ſpezieller dadurch große Schwierig- keiten gegen conſequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieſelben doch dem Gehalte nach großentheils bedeutend ſind, daß dieſer in umgekehrtem Verhältniß zu ihrem Körper ſteht, daß ſie ſich daher gegen die Einfügung in die antiken Verſe, namentlich die längeren, ſträuben: „ein mit ihnen gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erſcheinen“ (Grundriß der Metrik antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).
3. Den Reim haben wir mehrfach einen Erſatz für den Verluſt der ſtrengen Geſetzmäßigkeit des metriſch Rhythmiſchen genannt. Er tritt am Schluſſe des Verſes ein, und dieß eben iſt recht ein Ausdruck davon, daß hier im Verskörper ſelbſt noch etwas fehlt, vermißt, geſucht wird, das denn als Extremität, als Einfaſſung ſeinen Gliedern erſt den fehlenden organiſchen Halt gibt. Er kann auch die rhythmiſchen Reihen durchſchneiden und ſo in mehrere Zeilen zerfällen; dadurch iſt er eine Quelle der reichſten Mannig- faltigkeit in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr neuer Art in die poetiſche Formbildung ein. Vergleicht man dieſelbe mit den anderen Künſten, ſo erinnert ſie in der Architektur an den gothiſchen Styl: dieſer liebt das geometriſche Spiel der Stellungen, Umſtellungen, des ſymmetriſchen Gegenüber kryſtalliniſch gebundener, aber ohne ſtrengen Zuſammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente ſchwelgender Formen, während der claſſiſche ſeine keuſch geſparten Ausſchmückungen mit ſtreng organiſchem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der Unterſchied zwiſchen normal rhythmiſcher Schönheit und zwiſchen Reimſchmuck bei zerworfenen Verhältniſſen der letzteren entſpricht auf’s Einleuchtendſte dieſem architektoniſchen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei: es iſt tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an Klänge und bei dieſen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter individualiſirende Farbe bringt ganz ebenſo das Element einer neuen Quali- fication zu der feſten Form, die ſich in der Sculptur iſolirt, wie der Reim zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächſten aber liegt der Blick in das eng benachbarte muſikaliſche Gebiet: der Klang des Worts, wie er im Reime techniſch verwendet wird, daher als ſolcher ausdrücklich in’s Gehör fällt, iſt tief verwandt mit der Klangfarbe der ver- ſchiedenen Inſtrumente. Gleichzeitig ertönend bringen dieſe die Harmonie hervor; der ſucceſſive Eindruck der Reime tönt noch ungleich beſtimmter, als die wiederkehrenden Zeilen in reimloſen Strophen, wie eine gleichzeitige
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[1256/0120]
accent-, als quantitäts-mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäſte,
aber ſie können aus dieſem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken
Metren, denen ſie angehören, gebraucht werden, ſie ſind beliebt im ſpringen-
den Balladen-Versmaaß, aber zwiſchen Jamben oder Trochäen eingefaßt,
und dieſe einfachen Formen ſind die herrſchenden. Die ſchon erwähnte
Menge einſylbiger Wörter bereitet nun ſpezieller dadurch große Schwierig-
keiten gegen conſequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieſelben doch
dem Gehalte nach großentheils bedeutend ſind, daß dieſer in umgekehrtem
Verhältniß zu ihrem Körper ſteht, daß ſie ſich daher gegen die Einfügung
in die antiken Verſe, namentlich die längeren, ſträuben: „ein mit ihnen
gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erſcheinen“ (Grundriß der Metrik
antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).
3. Den Reim haben wir mehrfach einen Erſatz für den Verluſt der
ſtrengen Geſetzmäßigkeit des metriſch Rhythmiſchen genannt. Er tritt am
Schluſſe des Verſes ein, und dieß eben iſt recht ein Ausdruck davon, daß
hier im Verskörper ſelbſt noch etwas fehlt, vermißt, geſucht wird, das denn
als Extremität, als Einfaſſung ſeinen Gliedern erſt den fehlenden organiſchen
Halt gibt. Er kann auch die rhythmiſchen Reihen durchſchneiden und ſo in
mehrere Zeilen zerfällen; dadurch iſt er eine Quelle der reichſten Mannig-
faltigkeit in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr
neuer Art in die poetiſche Formbildung ein. Vergleicht man dieſelbe mit
den anderen Künſten, ſo erinnert ſie in der Architektur an den gothiſchen
Styl: dieſer liebt das geometriſche Spiel der Stellungen, Umſtellungen,
des ſymmetriſchen Gegenüber kryſtalliniſch gebundener, aber ohne ſtrengen
Zuſammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente ſchwelgender
Formen, während der claſſiſche ſeine keuſch geſparten Ausſchmückungen mit
ſtreng organiſchem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der
Unterſchied zwiſchen normal rhythmiſcher Schönheit und zwiſchen Reimſchmuck
bei zerworfenen Verhältniſſen der letzteren entſpricht auf’s Einleuchtendſte
dieſem architektoniſchen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei:
es iſt tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an
Klänge und bei dieſen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter
individualiſirende Farbe bringt ganz ebenſo das Element einer neuen Quali-
fication zu der feſten Form, die ſich in der Sculptur iſolirt, wie der Reim
zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächſten
aber liegt der Blick in das eng benachbarte muſikaliſche Gebiet: der Klang
des Worts, wie er im Reime techniſch verwendet wird, daher als ſolcher
ausdrücklich in’s Gehör fällt, iſt tief verwandt mit der Klangfarbe der ver-
ſchiedenen Inſtrumente. Gleichzeitig ertönend bringen dieſe die Harmonie
hervor; der ſucceſſive Eindruck der Reime tönt noch ungleich beſtimmter,
als die wiederkehrenden Zeilen in reimloſen Strophen, wie eine gleichzeitige
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/120>, abgerufen am 08.01.2025.
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