Erklingens; der hohe Ton ist eben der geschärftere und darum auch distinctere, die materielle Schwere immer mehr abstreifende, freiere, idealere, geflügeltere und darum "höher" erscheinende Ton; ja -- was für Späteres von Wich- tigkeit ist, -- der hohe Ton ist die eigentliche Realisation des Tones, der eigentliche Gegensatz zur Tonlosigkeit, in der Reihe der hohen Töne realisirt sich in immer steigender Entschiedenheit das, was eben den Ton ausmacht, die Herauspressung des Klanges aus der an sich stummen Materie durch schnelle Erschütterung ihrer Theile, die Musik ist wesentlich Aufsteigen aus der tonlosen Tiefe zu immer schärfern oder höhern Tönen, die auf- steigende Bewegung ist eben die tonerzeugende und darum das eigentlich Lebendige, Schöpferische, sich Bewegende an der Musik, die absteigende Bewegung ist nur die Rückkehr zu geringerer Volubilität des Tons, sie ist bereits das Aufhören, das beginnende Verklingen, sie ist das Ende, wie das Aufsteigen der Anfang und der lebendige Fortgang ist. Diese Unter- schiede des mehr oder weniger Scharfen fühlt die Gehörempfindung unmittel- bar; wie die Töne an sich selbst verschieden sind, so ist auch ihr Eindruck an sich selbst ein verschiedener und gibt sich auch dem vergleichenden Hören von selbst als ein verschiedener zu erkennen, obwohl weiterhin Reflexion und Uebung dazu gehört, das bestimmtere Verhältniß der Stumpfheit und Schärfe (Tiefe und Höhe) zwischen einzelnen Tönen sicher wahrzunehmen.
3. Die ästhetische Bedeutung der höhern und tiefern Töne und Tonlagen für die musikalische Kunst ist schon §. 752 erörtert. Das dort Gegebene erhält nun hier eine noch genauere, aus dem Wesen der Ton- erzeugung hergenommene Begründung. Die höhern, geschärftern, der materiellen Schwere entfliehenden, ideellern Töne sind es, in welchen sich die "gelöste Subjectivität" (s. d. §.) bewegt, zu denen sie aufsteigt im Jubel der Freude, wie in der ringenden, einen Ausweg suchenden Ver- zweiflung des Schmerzes; die höhern, distinctern, freiern Töne sind es, in welchen sich in der Regel die Melodie, die den klaren Ausdruck der Be- wegtheit einer Stimmung gebende Aneinanderreihung von Tönen, bewegt, wogegen die tiefern die ruhige elementare Grundlage jenes bewegten Auf- und Absteigens, die substantielle Basis der zum Höchsten hinanstrebenden Subjectivität zu bilden haben. Wohl können in besondern Fällen auch die obern Töne die Rolle der untern übernehmen, indem die Töne der Harmonie in sie hinauf verlegt werden, während eine tiefere Stimme die Melodie über- nimmt. Aber es hat dieß immer seinen speziellen Grund und kann nicht die Regel sein, es tritt dann ein, wenn die Begleitung einer Baßmelodie oder Passage es nicht anders gestattet, oder wenn der Componist in einem größern Tonstück eine Melodie abwechselnd in mannigfaltigen Tonlagen auftreten lassen will, oder erfüllt es den Zweck, einer Melodie bei ihrem ersten Erscheinen, z. B. im Anfang einer Symphonie, einen noch ruhigern,
Erklingens; der hohe Ton iſt eben der geſchärftere und darum auch diſtinctere, die materielle Schwere immer mehr abſtreifende, freiere, idealere, geflügeltere und darum „höher“ erſcheinende Ton; ja — was für Späteres von Wich- tigkeit iſt, — der hohe Ton iſt die eigentliche Realiſation des Tones, der eigentliche Gegenſatz zur Tonloſigkeit, in der Reihe der hohen Töne realiſirt ſich in immer ſteigender Entſchiedenheit das, was eben den Ton ausmacht, die Herauspreſſung des Klanges aus der an ſich ſtummen Materie durch ſchnelle Erſchütterung ihrer Theile, die Muſik iſt weſentlich Aufſteigen aus der tonloſen Tiefe zu immer ſchärfern oder höhern Tönen, die auf- ſteigende Bewegung iſt eben die tonerzeugende und darum das eigentlich Lebendige, Schöpferiſche, ſich Bewegende an der Muſik, die abſteigende Bewegung iſt nur die Rückkehr zu geringerer Volubilität des Tons, ſie iſt bereits das Aufhören, das beginnende Verklingen, ſie iſt das Ende, wie das Aufſteigen der Anfang und der lebendige Fortgang iſt. Dieſe Unter- ſchiede des mehr oder weniger Scharfen fühlt die Gehörempfindung unmittel- bar; wie die Töne an ſich ſelbſt verſchieden ſind, ſo iſt auch ihr Eindruck an ſich ſelbſt ein verſchiedener und gibt ſich auch dem vergleichenden Hören von ſelbſt als ein verſchiedener zu erkennen, obwohl weiterhin Reflexion und Uebung dazu gehört, das beſtimmtere Verhältniß der Stumpfheit und Schärfe (Tiefe und Höhe) zwiſchen einzelnen Tönen ſicher wahrzunehmen.
3. Die äſthetiſche Bedeutung der höhern und tiefern Töne und Tonlagen für die muſikaliſche Kunſt iſt ſchon §. 752 erörtert. Das dort Gegebene erhält nun hier eine noch genauere, aus dem Weſen der Ton- erzeugung hergenommene Begründung. Die höhern, geſchärftern, der materiellen Schwere entfliehenden, ideellern Töne ſind es, in welchen ſich die „gelöste Subjectivität“ (ſ. d. §.) bewegt, zu denen ſie aufſteigt im Jubel der Freude, wie in der ringenden, einen Ausweg ſuchenden Ver- zweiflung des Schmerzes; die höhern, diſtinctern, freiern Töne ſind es, in welchen ſich in der Regel die Melodie, die den klaren Ausdruck der Be- wegtheit einer Stimmung gebende Aneinanderreihung von Tönen, bewegt, wogegen die tiefern die ruhige elementare Grundlage jenes bewegten Auf- und Abſteigens, die ſubſtantielle Baſis der zum Höchſten hinanſtrebenden Subjectivität zu bilden haben. Wohl können in beſondern Fällen auch die obern Töne die Rolle der untern übernehmen, indem die Töne der Harmonie in ſie hinauf verlegt werden, während eine tiefere Stimme die Melodie über- nimmt. Aber es hat dieß immer ſeinen ſpeziellen Grund und kann nicht die Regel ſein, es tritt dann ein, wenn die Begleitung einer Baßmelodie oder Paſſage es nicht anders geſtattet, oder wenn der Componiſt in einem größern Tonſtück eine Melodie abwechſelnd in mannigfaltigen Tonlagen auftreten laſſen will, oder erfüllt es den Zweck, einer Melodie bei ihrem erſten Erſcheinen, z. B. im Anfang einer Symphonie, einen noch ruhigern,
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[849/0087]
Erklingens; der hohe Ton iſt eben der geſchärftere und darum auch diſtinctere,
die materielle Schwere immer mehr abſtreifende, freiere, idealere, geflügeltere
und darum „höher“ erſcheinende Ton; ja — was für Späteres von Wich-
tigkeit iſt, — der hohe Ton iſt die eigentliche Realiſation des Tones, der
eigentliche Gegenſatz zur Tonloſigkeit, in der Reihe der hohen Töne realiſirt
ſich in immer ſteigender Entſchiedenheit das, was eben den Ton ausmacht,
die Herauspreſſung des Klanges aus der an ſich ſtummen Materie durch
ſchnelle Erſchütterung ihrer Theile, die Muſik iſt weſentlich Aufſteigen
aus der tonloſen Tiefe zu immer ſchärfern oder höhern Tönen, die auf-
ſteigende Bewegung iſt eben die tonerzeugende und darum das eigentlich
Lebendige, Schöpferiſche, ſich Bewegende an der Muſik, die abſteigende
Bewegung iſt nur die Rückkehr zu geringerer Volubilität des Tons, ſie iſt
bereits das Aufhören, das beginnende Verklingen, ſie iſt das Ende, wie
das Aufſteigen der Anfang und der lebendige Fortgang iſt. Dieſe Unter-
ſchiede des mehr oder weniger Scharfen fühlt die Gehörempfindung unmittel-
bar; wie die Töne an ſich ſelbſt verſchieden ſind, ſo iſt auch ihr Eindruck
an ſich ſelbſt ein verſchiedener und gibt ſich auch dem vergleichenden Hören
von ſelbſt als ein verſchiedener zu erkennen, obwohl weiterhin Reflexion
und Uebung dazu gehört, das beſtimmtere Verhältniß der Stumpfheit und
Schärfe (Tiefe und Höhe) zwiſchen einzelnen Tönen ſicher wahrzunehmen.
3. Die äſthetiſche Bedeutung der höhern und tiefern Töne und
Tonlagen für die muſikaliſche Kunſt iſt ſchon §. 752 erörtert. Das dort
Gegebene erhält nun hier eine noch genauere, aus dem Weſen der Ton-
erzeugung hergenommene Begründung. Die höhern, geſchärftern, der
materiellen Schwere entfliehenden, ideellern Töne ſind es, in welchen ſich
die „gelöste Subjectivität“ (ſ. d. §.) bewegt, zu denen ſie aufſteigt im
Jubel der Freude, wie in der ringenden, einen Ausweg ſuchenden Ver-
zweiflung des Schmerzes; die höhern, diſtinctern, freiern Töne ſind es, in
welchen ſich in der Regel die Melodie, die den klaren Ausdruck der Be-
wegtheit einer Stimmung gebende Aneinanderreihung von Tönen, bewegt,
wogegen die tiefern die ruhige elementare Grundlage jenes bewegten Auf-
und Abſteigens, die ſubſtantielle Baſis der zum Höchſten hinanſtrebenden
Subjectivität zu bilden haben. Wohl können in beſondern Fällen auch die
obern Töne die Rolle der untern übernehmen, indem die Töne der Harmonie
in ſie hinauf verlegt werden, während eine tiefere Stimme die Melodie über-
nimmt. Aber es hat dieß immer ſeinen ſpeziellen Grund und kann nicht
die Regel ſein, es tritt dann ein, wenn die Begleitung einer Baßmelodie
oder Paſſage es nicht anders geſtattet, oder wenn der Componiſt in einem
größern Tonſtück eine Melodie abwechſelnd in mannigfaltigen Tonlagen
auftreten laſſen will, oder erfüllt es den Zweck, einer Melodie bei ihrem
erſten Erſcheinen, z. B. im Anfang einer Symphonie, einen noch ruhigern,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 849. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/87>, abgerufen am 26.11.2024.
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