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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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subjective Existenz im Geiste dessen, der es vernimmt; die hörende Phantasie
muß ihm entgegenkommen, damit es zu realer Existenz außer dem Geiste
des Künstlers gelange. Dieses Entgegenkommen ist zunächst ein Verhältniß
der reinen Passivität, der schlechthinigen Empfänglichkeit; die hörende Phan-
tasie bekommt das Tonwerk nicht in einem Moment als Ganzes, als Fer-
tiges, das man überblicken, wieder bei Seite stellen, abermals beschauen
kann und so fort, sondern sie bekommt es nur als successiv sich entfaltende
Reihe von Tonbewegungen, denen sie continuirlich folgen, deren Vernehmung
sie sich ganz und unbedingt hingeben muß, nicht nur um nichts Einzelnes,
kein Glied der Reihe, sondern namentlich um den innern Zusammenhang
sich nicht entgehen zu lassen, der die einzelnen Glieder überall unter sich
und mit dem Ganzen des "Tongewebes" verflicht. Diese Passivität der
Hingabe an das Tonwerk wird zwar vermindert durch die Fixirung der
Töne in der Notenschrift, welche ein freieres Ueberschauen des Ganzen
ermöglicht; aber das wahre, den rechten Eindruck gebende Verhalten ist
dieses Tonlesen nicht, das Tonwerk kommt hiebei nie ganz zu derjenigen
Existenz in der Phantasie des (jetzt zum Leser gewordenen) Hörers, die es
eigentlich haben soll und will; das Tempo, die verschiedene Betonung und
Tonstärke einzelner Stellen, der Fluß des Ganzen und der Theile, der
lebendige Zusammenhang an jedem einzelnen Puncte, dieß Alles geht dem
Leser mehr oder weniger verloren, und er verliert auch dadurch immer noch
etwas am vollen Eindruck, daß die nachbildende Thätigkeit der Phantasie
durch die Verstandesthätigkeit des fortwährenden Umsetzens der Tonzeichen
in Tonvorstellungen gehemmt und eingeengt ist; er verliert hiedurch noch
weit mehr als man z. B. beim Lesen eines Gedichtes einbüßt, weil das
Aufnehmen der Poesie selbst schon mehr zugleich Verstandesthätigkeit ist
und daher hier jenes Umsetzen der Zeichen in Vorstellungen weniger störend
einwirkt. Sogar das eigene Ausführen (Spielen) eines Tonstückes, durch
welches jene Einseitigkeit eines verstandesmäßigen Tonlesens durch das
Hören der gelesenen oder auch aus unmittelbarer Erinnerung reproducirten
Töne wiederum einigermaßen ausgeglichen wird, ist nicht dasjenige Ver-
halten, durch welches die Phantasie das Kunstwerk ganz und vollkommen
sich aneignet; es ist auch hier zu viel Selbstthätigkeit, die das reine Ver-
nehmen des Gebotenen trübt, der Spieler greift seinem Spiel immer zugleich
vor, er ist im Geist immer schon weiter voran als mit der Hand, die beiden
in ihm vereinigten Personen des Executors und des Hörers gehen doch
nicht recht zusammen, jede greift der andern in's Handwerk und läßt sie
nicht frei für sich agiren; nur wer ein Kunstwerk durch Andere aufführt,
nur der Dirigent ist so glücklich, Executor und Hörer zugleich ohne Schaden
für den Einen oder Andern sein zu können. Oefteres Lesen und Vortragen
gleicht natürlich allmälig alle jene Mängel aus, indem durch die Wieder-

ſubjective Exiſtenz im Geiſte deſſen, der es vernimmt; die hörende Phantaſie
muß ihm entgegenkommen, damit es zu realer Exiſtenz außer dem Geiſte
des Künſtlers gelange. Dieſes Entgegenkommen iſt zunächſt ein Verhältniß
der reinen Paſſivität, der ſchlechthinigen Empfänglichkeit; die hörende Phan-
taſie bekommt das Tonwerk nicht in einem Moment als Ganzes, als Fer-
tiges, das man überblicken, wieder bei Seite ſtellen, abermals beſchauen
kann und ſo fort, ſondern ſie bekommt es nur als ſucceſſiv ſich entfaltende
Reihe von Tonbewegungen, denen ſie continuirlich folgen, deren Vernehmung
ſie ſich ganz und unbedingt hingeben muß, nicht nur um nichts Einzelnes,
kein Glied der Reihe, ſondern namentlich um den innern Zuſammenhang
ſich nicht entgehen zu laſſen, der die einzelnen Glieder überall unter ſich
und mit dem Ganzen des „Tongewebes“ verflicht. Dieſe Paſſivität der
Hingabe an das Tonwerk wird zwar vermindert durch die Fixirung der
Töne in der Notenſchrift, welche ein freieres Ueberſchauen des Ganzen
ermöglicht; aber das wahre, den rechten Eindruck gebende Verhalten iſt
dieſes Tonleſen nicht, das Tonwerk kommt hiebei nie ganz zu derjenigen
Exiſtenz in der Phantaſie des (jetzt zum Leſer gewordenen) Hörers, die es
eigentlich haben ſoll und will; das Tempo, die verſchiedene Betonung und
Tonſtärke einzelner Stellen, der Fluß des Ganzen und der Theile, der
lebendige Zuſammenhang an jedem einzelnen Puncte, dieß Alles geht dem
Leſer mehr oder weniger verloren, und er verliert auch dadurch immer noch
etwas am vollen Eindruck, daß die nachbildende Thätigkeit der Phantaſie
durch die Verſtandesthätigkeit des fortwährenden Umſetzens der Tonzeichen
in Tonvorſtellungen gehemmt und eingeengt iſt; er verliert hiedurch noch
weit mehr als man z. B. beim Leſen eines Gedichtes einbüßt, weil das
Aufnehmen der Poeſie ſelbſt ſchon mehr zugleich Verſtandesthätigkeit iſt
und daher hier jenes Umſetzen der Zeichen in Vorſtellungen weniger ſtörend
einwirkt. Sogar das eigene Ausführen (Spielen) eines Tonſtückes, durch
welches jene Einſeitigkeit eines verſtandesmäßigen Tonleſens durch das
Hören der geleſenen oder auch aus unmittelbarer Erinnerung reproducirten
Töne wiederum einigermaßen ausgeglichen wird, iſt nicht dasjenige Ver-
halten, durch welches die Phantaſie das Kunſtwerk ganz und vollkommen
ſich aneignet; es iſt auch hier zu viel Selbſtthätigkeit, die das reine Ver-
nehmen des Gebotenen trübt, der Spieler greift ſeinem Spiel immer zugleich
vor, er iſt im Geiſt immer ſchon weiter voran als mit der Hand, die beiden
in ihm vereinigten Perſonen des Executors und des Hörers gehen doch
nicht recht zuſammen, jede greift der andern in’s Handwerk und läßt ſie
nicht frei für ſich agiren; nur wer ein Kunſtwerk durch Andere aufführt,
nur der Dirigent iſt ſo glücklich, Executor und Hörer zugleich ohne Schaden
für den Einen oder Andern ſein zu können. Oefteres Leſen und Vortragen
gleicht natürlich allmälig alle jene Mängel aus, indem durch die Wieder-

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[844/0082] ſubjective Exiſtenz im Geiſte deſſen, der es vernimmt; die hörende Phantaſie muß ihm entgegenkommen, damit es zu realer Exiſtenz außer dem Geiſte des Künſtlers gelange. Dieſes Entgegenkommen iſt zunächſt ein Verhältniß der reinen Paſſivität, der ſchlechthinigen Empfänglichkeit; die hörende Phan- taſie bekommt das Tonwerk nicht in einem Moment als Ganzes, als Fer- tiges, das man überblicken, wieder bei Seite ſtellen, abermals beſchauen kann und ſo fort, ſondern ſie bekommt es nur als ſucceſſiv ſich entfaltende Reihe von Tonbewegungen, denen ſie continuirlich folgen, deren Vernehmung ſie ſich ganz und unbedingt hingeben muß, nicht nur um nichts Einzelnes, kein Glied der Reihe, ſondern namentlich um den innern Zuſammenhang ſich nicht entgehen zu laſſen, der die einzelnen Glieder überall unter ſich und mit dem Ganzen des „Tongewebes“ verflicht. Dieſe Paſſivität der Hingabe an das Tonwerk wird zwar vermindert durch die Fixirung der Töne in der Notenſchrift, welche ein freieres Ueberſchauen des Ganzen ermöglicht; aber das wahre, den rechten Eindruck gebende Verhalten iſt dieſes Tonleſen nicht, das Tonwerk kommt hiebei nie ganz zu derjenigen Exiſtenz in der Phantaſie des (jetzt zum Leſer gewordenen) Hörers, die es eigentlich haben ſoll und will; das Tempo, die verſchiedene Betonung und Tonſtärke einzelner Stellen, der Fluß des Ganzen und der Theile, der lebendige Zuſammenhang an jedem einzelnen Puncte, dieß Alles geht dem Leſer mehr oder weniger verloren, und er verliert auch dadurch immer noch etwas am vollen Eindruck, daß die nachbildende Thätigkeit der Phantaſie durch die Verſtandesthätigkeit des fortwährenden Umſetzens der Tonzeichen in Tonvorſtellungen gehemmt und eingeengt iſt; er verliert hiedurch noch weit mehr als man z. B. beim Leſen eines Gedichtes einbüßt, weil das Aufnehmen der Poeſie ſelbſt ſchon mehr zugleich Verſtandesthätigkeit iſt und daher hier jenes Umſetzen der Zeichen in Vorſtellungen weniger ſtörend einwirkt. Sogar das eigene Ausführen (Spielen) eines Tonſtückes, durch welches jene Einſeitigkeit eines verſtandesmäßigen Tonleſens durch das Hören der geleſenen oder auch aus unmittelbarer Erinnerung reproducirten Töne wiederum einigermaßen ausgeglichen wird, iſt nicht dasjenige Ver- halten, durch welches die Phantaſie das Kunſtwerk ganz und vollkommen ſich aneignet; es iſt auch hier zu viel Selbſtthätigkeit, die das reine Ver- nehmen des Gebotenen trübt, der Spieler greift ſeinem Spiel immer zugleich vor, er iſt im Geiſt immer ſchon weiter voran als mit der Hand, die beiden in ihm vereinigten Perſonen des Executors und des Hörers gehen doch nicht recht zuſammen, jede greift der andern in’s Handwerk und läßt ſie nicht frei für ſich agiren; nur wer ein Kunſtwerk durch Andere aufführt, nur der Dirigent iſt ſo glücklich, Executor und Hörer zugleich ohne Schaden für den Einen oder Andern ſein zu können. Oefteres Leſen und Vortragen gleicht natürlich allmälig alle jene Mängel aus, indem durch die Wieder-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 844. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/82>, abgerufen am 26.11.2024.