begründet und präformirt im Wesen des Gehörs und des Gefühls, aber es ist damit noch nicht nothwendig auch im Bewußtsein da, es muß und mußte Alles erst allmälig durch jene Thätigkeit der musikalischen Phantasie entdeckt, herausentwickelt und im Einzelnen näher bestimmt werden. Auch ist diese der Composition vorausgehende künstlerische Gestaltung des Ton- materials gar nicht so klar in der Natur vorgezeichnet, daß sie sich für die musikalische Phantasie ganz von selbst, mit aller Sicherheit und Vollständig- keit ergäbe. Die verschiedenen Tonsysteme verschiedener Zeiten und Völker zeigen, wie unsicher Alles wird, sobald es sich um das Speziellere, um den Umfang der Tonreihe, um die normale Größe der Tondistanzen, um Ton- geschlechter und Tonarten handelt; Harmonie und (jetziger) Rhythmus sind großentheils eine Erfindung von ziemlich spätem Ursprung; natürlich ist Alles, aber nicht Alles ist schon von der Natur empirisch an die Hand ge- geben und nicht Alles von ihr schon so fest bestimmt, daß nicht in einzelnen Puncten abweichende Vorstellungen sich bilden könnten, oder wenigstens die naturgemäße Begründung von Diesem oder Jenem (z. B. von unserer Durtonleiter) nicht hie und da schwierig nachzuweisen wäre. Aus diesem schwebenden, unsichern Charakter der speziellern Gestaltung und Gliederung des Tonmaterials entsteht für die musikalische Aesthetik die Aufgabe, nicht nur die Beschaffenheit des Tonmaterials, wie sie sich im Verlauf der Zeiten gebildet hat, und ihre Bedeutung für die Composition zu analysiren, son- dern auch der Begründung, welche sie im Wesen des Gehörs und des Gefühls hat, nachzugehen, die akustischen und psychologisch ästhetischen Gesetze, auf denen Alles beruht, zu erforschen und so eine aus der Natur geschöpfte Theorie des Tonmaterials zu gewinnen.
2. Der §. berührt auch die Frage nach dem Material im zweiten Sinne des Worts (vergl. §. 660) oder nach dem Medium, durch welches die Musik ihre Gebilde zur subjectiven Anschauung bringt, sie hörbar, vernehmlich macht. Auch hier fällt alles Aeußere im Begriff des Materials weg; das Material, in welchem die Musik arbeitet, ist die Phantasie des Zuhörers selbst, welcher der Componist sein Werk unmittelbar vor- oder "aufführt," indem er es mit den Mitteln, die er für dasselbe gewählt, mit natürlichen oder künstlichen Musikorganen, ertönen läßt. Durch die Aufführung, durch die Umsetzung des von der Phantasie des Künstlers zunächst blos gedachten Tones in wirklichen Ton, fließt derselbe unmittelbar über in die nachbil- dende Phantasie des Hörers; der Ton geht, nur flüchtig durch Stimmen oder Instrumente für den Moment fixirt, von der einen Phantasie hinüber in die andere, ohne daß ein äußeres Medium zwischen beide hineinträte. Auch hiemit trennt sich die Musik vollständig von den bildenden Künsten und tritt auf Eine Seite mit der Poesie, die gleichfalls nur für die Phan- tasie arbeitet; das musikalische Kunstwerk gewinnt (§. 763) nur momentan
begründet und präformirt im Weſen des Gehörs und des Gefühls, aber es iſt damit noch nicht nothwendig auch im Bewußtſein da, es muß und mußte Alles erſt allmälig durch jene Thätigkeit der muſikaliſchen Phantaſie entdeckt, herausentwickelt und im Einzelnen näher beſtimmt werden. Auch iſt dieſe der Compoſition vorausgehende künſtleriſche Geſtaltung des Ton- materials gar nicht ſo klar in der Natur vorgezeichnet, daß ſie ſich für die muſikaliſche Phantaſie ganz von ſelbſt, mit aller Sicherheit und Vollſtändig- keit ergäbe. Die verſchiedenen Tonſyſteme verſchiedener Zeiten und Völker zeigen, wie unſicher Alles wird, ſobald es ſich um das Speziellere, um den Umfang der Tonreihe, um die normale Größe der Tondiſtanzen, um Ton- geſchlechter und Tonarten handelt; Harmonie und (jetziger) Rhythmus ſind großentheils eine Erfindung von ziemlich ſpätem Urſprung; natürlich iſt Alles, aber nicht Alles iſt ſchon von der Natur empiriſch an die Hand ge- geben und nicht Alles von ihr ſchon ſo feſt beſtimmt, daß nicht in einzelnen Puncten abweichende Vorſtellungen ſich bilden könnten, oder wenigſtens die naturgemäße Begründung von Dieſem oder Jenem (z. B. von unſerer Durtonleiter) nicht hie und da ſchwierig nachzuweiſen wäre. Aus dieſem ſchwebenden, unſichern Charakter der ſpeziellern Geſtaltung und Gliederung des Tonmaterials entſteht für die muſikaliſche Aeſthetik die Aufgabe, nicht nur die Beſchaffenheit des Tonmaterials, wie ſie ſich im Verlauf der Zeiten gebildet hat, und ihre Bedeutung für die Compoſition zu analyſiren, ſon- dern auch der Begründung, welche ſie im Weſen des Gehörs und des Gefühls hat, nachzugehen, die akuſtiſchen und pſychologiſch äſthetiſchen Geſetze, auf denen Alles beruht, zu erforſchen und ſo eine aus der Natur geſchöpfte Theorie des Tonmaterials zu gewinnen.
2. Der §. berührt auch die Frage nach dem Material im zweiten Sinne des Worts (vergl. §. 660) oder nach dem Medium, durch welches die Muſik ihre Gebilde zur ſubjectiven Anſchauung bringt, ſie hörbar, vernehmlich macht. Auch hier fällt alles Aeußere im Begriff des Materials weg; das Material, in welchem die Muſik arbeitet, iſt die Phantaſie des Zuhörers ſelbſt, welcher der Componiſt ſein Werk unmittelbar vor- oder „aufführt,“ indem er es mit den Mitteln, die er für daſſelbe gewählt, mit natürlichen oder künſtlichen Muſikorganen, ertönen läßt. Durch die Aufführung, durch die Umſetzung des von der Phantaſie des Künſtlers zunächſt blos gedachten Tones in wirklichen Ton, fließt derſelbe unmittelbar über in die nachbil- dende Phantaſie des Hörers; der Ton geht, nur flüchtig durch Stimmen oder Inſtrumente für den Moment fixirt, von der einen Phantaſie hinüber in die andere, ohne daß ein äußeres Medium zwiſchen beide hineinträte. Auch hiemit trennt ſich die Muſik vollſtändig von den bildenden Künſten und tritt auf Eine Seite mit der Poeſie, die gleichfalls nur für die Phan- taſie arbeitet; das muſikaliſche Kunſtwerk gewinnt (§. 763) nur momentan
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[843/0081]
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iſt damit noch nicht nothwendig auch im Bewußtſein da, es muß und
mußte Alles erſt allmälig durch jene Thätigkeit der muſikaliſchen Phantaſie
entdeckt, herausentwickelt und im Einzelnen näher beſtimmt werden. Auch
iſt dieſe der Compoſition vorausgehende künſtleriſche Geſtaltung des Ton-
materials gar nicht ſo klar in der Natur vorgezeichnet, daß ſie ſich für die
muſikaliſche Phantaſie ganz von ſelbſt, mit aller Sicherheit und Vollſtändig-
keit ergäbe. Die verſchiedenen Tonſyſteme verſchiedener Zeiten und Völker
zeigen, wie unſicher Alles wird, ſobald es ſich um das Speziellere, um den
Umfang der Tonreihe, um die normale Größe der Tondiſtanzen, um Ton-
geſchlechter und Tonarten handelt; Harmonie und (jetziger) Rhythmus ſind
großentheils eine Erfindung von ziemlich ſpätem Urſprung; natürlich iſt
Alles, aber nicht Alles iſt ſchon von der Natur empiriſch an die Hand ge-
geben und nicht Alles von ihr ſchon ſo feſt beſtimmt, daß nicht in einzelnen
Puncten abweichende Vorſtellungen ſich bilden könnten, oder wenigſtens die
naturgemäße Begründung von Dieſem oder Jenem (z. B. von unſerer
Durtonleiter) nicht hie und da ſchwierig nachzuweiſen wäre. Aus dieſem
ſchwebenden, unſichern Charakter der ſpeziellern Geſtaltung und Gliederung
des Tonmaterials entſteht für die muſikaliſche Aeſthetik die Aufgabe, nicht
nur die Beſchaffenheit des Tonmaterials, wie ſie ſich im Verlauf der Zeiten
gebildet hat, und ihre Bedeutung für die Compoſition zu analyſiren, ſon-
dern auch der Begründung, welche ſie im Weſen des Gehörs und des
Gefühls hat, nachzugehen, die akuſtiſchen und pſychologiſch äſthetiſchen
Geſetze, auf denen Alles beruht, zu erforſchen und ſo eine aus der Natur
geſchöpfte Theorie des Tonmaterials zu gewinnen.
2. Der §. berührt auch die Frage nach dem Material im zweiten Sinne
des Worts (vergl. §. 660) oder nach dem Medium, durch welches die Muſik
ihre Gebilde zur ſubjectiven Anſchauung bringt, ſie hörbar, vernehmlich
macht. Auch hier fällt alles Aeußere im Begriff des Materials weg; das
Material, in welchem die Muſik arbeitet, iſt die Phantaſie des Zuhörers
ſelbſt, welcher der Componiſt ſein Werk unmittelbar vor- oder „aufführt,“
indem er es mit den Mitteln, die er für daſſelbe gewählt, mit natürlichen
oder künſtlichen Muſikorganen, ertönen läßt. Durch die Aufführung, durch
die Umſetzung des von der Phantaſie des Künſtlers zunächſt blos gedachten
Tones in wirklichen Ton, fließt derſelbe unmittelbar über in die nachbil-
dende Phantaſie des Hörers; der Ton geht, nur flüchtig durch Stimmen
oder Inſtrumente für den Moment fixirt, von der einen Phantaſie hinüber
in die andere, ohne daß ein äußeres Medium zwiſchen beide hineinträte.
Auch hiemit trennt ſich die Muſik vollſtändig von den bildenden Künſten
und tritt auf Eine Seite mit der Poeſie, die gleichfalls nur für die Phan-
taſie arbeitet; das muſikaliſche Kunſtwerk gewinnt (§. 763) nur momentan
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 843. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/81>, abgerufen am 26.11.2024.
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