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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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stimmte Existenz der Form hat die Musik nach der einen Seite, soweit sie
in den bildenden Künsten zur Erscheinung gebracht ist, verflüchtigt, nach der
andern, sofern sie in neuer Weise durch die Poesie erstehen soll, noch nicht
wiedererzeugt. Die Musik ist also vor lauter reiner Idealität ebensosehr nicht
wahre Idealität. Geahnt und dunkel vorschwebend hat sie die ganze Welt,
in klarer Wirklichkeit hat sie nichts. Sie ist die reichste Kunst: sie spricht
das Innigste aus, sagt das Unsagbare, und sie ist die ärmste Kunst, sagt
nichts. Sie erfaßt mit ihrer objectlosen Entzückung den reinen Geist an
jenem dunkeln Puncte, wo in den zarten Fäden des Nervenlebens der geistige
Phosphor aufblitzt, und diese Fäden sind zugleich als der höchste und letzte
Extract des Sinnlichen, die Träger der sublimsten und gerade dadurch sinn-
lichsten Sinnlichkeit. Die concentrirtesten Tiefen dieser Kunst der Innerlichkeit
zu entwickeln war der protestantischen Welt vorbehalten und doch hat sie
der Breite, Popularität, Allgemeinheit des Sinns und der Fruchtbarkeit
nach jederzeit mehr in der sinnlicheren Stimmung katholischer Bevölkerungen
geblüht. Auch das Eigenthümliche der Begabungs-Unterschiede zeigt die
ganz besondere Natur dieser Kunst. Es gibt allerdings keine Kunstform,
für welche nicht einem Theile der menschlichen Organisationen die Gabe
versagt wäre. Der ästhetische Sinn, ein wesentliches und untrennbares
Attribut der menschlichen Gattung, ist im Individuum mehr oder minder ein-
seitig, dem Einen ist das plastische Formgefühl, dem Andern das malerische
Auge versagt, aber so ganz todt und unverständlich sind doch wohl diese
Gebiete der Kunstwelt auch dem stumpferen Sinne nicht, wie es die Musik
denen ist, welchen einmal das musikalische Gehör fehlt. Die Allgemeinheit
und Nothwendigkeit, die wir schon §. 750, Anm. 2. auch von dem Schönen
in reiner Gefühlsform behauptet haben, bleibt nichtsdestoweniger stehen, denn
es ist eine Abnormität, wenn zwischen den rhythmischen Schwingungen einer
Seele und zwischen ihrem Gehörssinn das Band rein zerschnitten erscheint.
Blos mangelhaft entwickelt wird man den musikalischen Sinn durchschnittlich
bei den Naturen finden, die sehr entschieden auf das Auge organisirt sind
und deren Geist auf scharfes, denkendes Unterscheiden dringt; wogegen
musikalische Anlage und Neigung mit mathematischer Begabung in engem
Zusammenhang steht. Die Schärfe mathematischen Unterscheidens verträgt
sich trotz dem scheinbaren Widerspruche ganz wohl mit einer Kunstform, die
im Allgemeinen weiblich zu nennen ist, aber einem Manne der philosophischen
Strenge, wie Kant, lag es nahe, die Musik, weil sie im Spiele der Em-
pfindung nur unbestimmte Ideen erwecke, zu tief unter die bildende Kunst
zu stellen, welche durch die Einbildungskraft dem Verstande bestimmte Ideen
zuführe und so die Erkenntnißvermögen erweitere (Kr. d. ästh. Urthlskr. §. 53);
er gibt zwar zu, daß die Musik "inniglicher" wirke, aber er übersieht, daß
eben in dieser Innigkeit die Geistesahnung die zwar unbestimmtere, aber

ſtimmte Exiſtenz der Form hat die Muſik nach der einen Seite, ſoweit ſie
in den bildenden Künſten zur Erſcheinung gebracht iſt, verflüchtigt, nach der
andern, ſofern ſie in neuer Weiſe durch die Poeſie erſtehen ſoll, noch nicht
wiedererzeugt. Die Muſik iſt alſo vor lauter reiner Idealität ebenſoſehr nicht
wahre Idealität. Geahnt und dunkel vorſchwebend hat ſie die ganze Welt,
in klarer Wirklichkeit hat ſie nichts. Sie iſt die reichſte Kunſt: ſie ſpricht
das Innigſte aus, ſagt das Unſagbare, und ſie iſt die ärmſte Kunſt, ſagt
nichts. Sie erfaßt mit ihrer objectloſen Entzückung den reinen Geiſt an
jenem dunkeln Puncte, wo in den zarten Fäden des Nervenlebens der geiſtige
Phosphor aufblitzt, und dieſe Fäden ſind zugleich als der höchſte und letzte
Extract des Sinnlichen, die Träger der ſublimſten und gerade dadurch ſinn-
lichſten Sinnlichkeit. Die concentrirteſten Tiefen dieſer Kunſt der Innerlichkeit
zu entwickeln war der proteſtantiſchen Welt vorbehalten und doch hat ſie
der Breite, Popularität, Allgemeinheit des Sinns und der Fruchtbarkeit
nach jederzeit mehr in der ſinnlicheren Stimmung katholiſcher Bevölkerungen
geblüht. Auch das Eigenthümliche der Begabungs-Unterſchiede zeigt die
ganz beſondere Natur dieſer Kunſt. Es gibt allerdings keine Kunſtform,
für welche nicht einem Theile der menſchlichen Organiſationen die Gabe
verſagt wäre. Der äſthetiſche Sinn, ein weſentliches und untrennbares
Attribut der menſchlichen Gattung, iſt im Individuum mehr oder minder ein-
ſeitig, dem Einen iſt das plaſtiſche Formgefühl, dem Andern das maleriſche
Auge verſagt, aber ſo ganz todt und unverſtändlich ſind doch wohl dieſe
Gebiete der Kunſtwelt auch dem ſtumpferen Sinne nicht, wie es die Muſik
denen iſt, welchen einmal das muſikaliſche Gehör fehlt. Die Allgemeinheit
und Nothwendigkeit, die wir ſchon §. 750, Anm. 2. auch von dem Schönen
in reiner Gefühlsform behauptet haben, bleibt nichtsdeſtoweniger ſtehen, denn
es iſt eine Abnormität, wenn zwiſchen den rhythmiſchen Schwingungen einer
Seele und zwiſchen ihrem Gehörsſinn das Band rein zerſchnitten erſcheint.
Blos mangelhaft entwickelt wird man den muſikaliſchen Sinn durchſchnittlich
bei den Naturen finden, die ſehr entſchieden auf das Auge organiſirt ſind
und deren Geiſt auf ſcharfes, denkendes Unterſcheiden dringt; wogegen
muſikaliſche Anlage und Neigung mit mathematiſcher Begabung in engem
Zuſammenhang ſteht. Die Schärfe mathematiſchen Unterſcheidens verträgt
ſich trotz dem ſcheinbaren Widerſpruche ganz wohl mit einer Kunſtform, die
im Allgemeinen weiblich zu nennen iſt, aber einem Manne der philoſophiſchen
Strenge, wie Kant, lag es nahe, die Muſik, weil ſie im Spiele der Em-
pfindung nur unbeſtimmte Ideen erwecke, zu tief unter die bildende Kunſt
zu ſtellen, welche durch die Einbildungskraft dem Verſtande beſtimmte Ideen
zuführe und ſo die Erkenntnißvermögen erweitere (Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 53);
er gibt zwar zu, daß die Muſik „inniglicher“ wirke, aber er überſieht, daß
eben in dieſer Innigkeit die Geiſtesahnung die zwar unbeſtimmtere, aber

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[828/0066] ſtimmte Exiſtenz der Form hat die Muſik nach der einen Seite, ſoweit ſie in den bildenden Künſten zur Erſcheinung gebracht iſt, verflüchtigt, nach der andern, ſofern ſie in neuer Weiſe durch die Poeſie erſtehen ſoll, noch nicht wiedererzeugt. Die Muſik iſt alſo vor lauter reiner Idealität ebenſoſehr nicht wahre Idealität. Geahnt und dunkel vorſchwebend hat ſie die ganze Welt, in klarer Wirklichkeit hat ſie nichts. Sie iſt die reichſte Kunſt: ſie ſpricht das Innigſte aus, ſagt das Unſagbare, und ſie iſt die ärmſte Kunſt, ſagt nichts. Sie erfaßt mit ihrer objectloſen Entzückung den reinen Geiſt an jenem dunkeln Puncte, wo in den zarten Fäden des Nervenlebens der geiſtige Phosphor aufblitzt, und dieſe Fäden ſind zugleich als der höchſte und letzte Extract des Sinnlichen, die Träger der ſublimſten und gerade dadurch ſinn- lichſten Sinnlichkeit. Die concentrirteſten Tiefen dieſer Kunſt der Innerlichkeit zu entwickeln war der proteſtantiſchen Welt vorbehalten und doch hat ſie der Breite, Popularität, Allgemeinheit des Sinns und der Fruchtbarkeit nach jederzeit mehr in der ſinnlicheren Stimmung katholiſcher Bevölkerungen geblüht. Auch das Eigenthümliche der Begabungs-Unterſchiede zeigt die ganz beſondere Natur dieſer Kunſt. Es gibt allerdings keine Kunſtform, für welche nicht einem Theile der menſchlichen Organiſationen die Gabe verſagt wäre. Der äſthetiſche Sinn, ein weſentliches und untrennbares Attribut der menſchlichen Gattung, iſt im Individuum mehr oder minder ein- ſeitig, dem Einen iſt das plaſtiſche Formgefühl, dem Andern das maleriſche Auge verſagt, aber ſo ganz todt und unverſtändlich ſind doch wohl dieſe Gebiete der Kunſtwelt auch dem ſtumpferen Sinne nicht, wie es die Muſik denen iſt, welchen einmal das muſikaliſche Gehör fehlt. Die Allgemeinheit und Nothwendigkeit, die wir ſchon §. 750, Anm. 2. auch von dem Schönen in reiner Gefühlsform behauptet haben, bleibt nichtsdeſtoweniger ſtehen, denn es iſt eine Abnormität, wenn zwiſchen den rhythmiſchen Schwingungen einer Seele und zwiſchen ihrem Gehörsſinn das Band rein zerſchnitten erſcheint. Blos mangelhaft entwickelt wird man den muſikaliſchen Sinn durchſchnittlich bei den Naturen finden, die ſehr entſchieden auf das Auge organiſirt ſind und deren Geiſt auf ſcharfes, denkendes Unterſcheiden dringt; wogegen muſikaliſche Anlage und Neigung mit mathematiſcher Begabung in engem Zuſammenhang ſteht. Die Schärfe mathematiſchen Unterſcheidens verträgt ſich trotz dem ſcheinbaren Widerſpruche ganz wohl mit einer Kunſtform, die im Allgemeinen weiblich zu nennen iſt, aber einem Manne der philoſophiſchen Strenge, wie Kant, lag es nahe, die Muſik, weil ſie im Spiele der Em- pfindung nur unbeſtimmte Ideen erwecke, zu tief unter die bildende Kunſt zu ſtellen, welche durch die Einbildungskraft dem Verſtande beſtimmte Ideen zuführe und ſo die Erkenntnißvermögen erweitere (Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 53); er gibt zwar zu, daß die Muſik „inniglicher“ wirke, aber er überſieht, daß eben in dieſer Innigkeit die Geiſtesahnung die zwar unbeſtimmtere, aber

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 828. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/66>, abgerufen am 25.11.2024.