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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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zwischen sich und der in ihm wiederklingenden Welt der Objecte inne wird.
Dieß aber läßt sich nur durch die Zahl ausdrücken. Die Zahl ist nicht das
Gefühl, denn dieses ist im höchsten Sinne qualitativ, aber unerschlossene,
dem Denken als einem Sprechen, der Begriffsbestimmung durch das Wort
verhüllte Qualität, und da diese Qualität doch eine ganz selbständige Form
ist, in die sich der ganze Geist legt, da sie also doch ihre volle Welt innerer
Unterschiede haben muß, so kann sie ihren Ausdruck nur in dem finden,
was zwar nur quantitativ ist, aber das Verhältnißleben des Qualitativen
formulirt. Der wache, scheidende Geist muß sich in seinen Formen, wie
schon bemerkt ist, auch durch Zahlen ausdrücken lassen, aber da er sagen
kann, was er ist, so hat die Zahl ihre Nothwendigkeit, hiemit ihr Interesse
verloren. Es ist falsch, gegen die Geltung des Pythagoräischen Prinzips
in der Weise der Aristoxeniker zu sagen, das musikalisch Schöne komme nur
aus dem Gemüthe, nicht aus der Zahl, sofern dieser Polemik die Meinung
zu Grunde liegt, das Schöne des Gefühls würde zerstört, wenn man es
als unendlichen Wechsel von Verhältnißstellungen auffaßt: dieß scheinbar
höchst Farblose, der Innigkeit Baare ist allerdings das qualitative Innere
des Gefühls selbst und die Zahl drückt es zwar nur aus, ist es nicht selbst,
weil sie qualitätslos ist, drückt es aber auch allein aus. Das bekannte
Wort des Leibnitz: musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis
se numerare animi (Epist. ad divers. I.,
144.) kann nur als höchst geist-
reich anerkannt werden. Die Seele rechnet zwar nicht blos, aber sie
durchläuft jene geistigen Verhältnißstellungen in einer durch die jeweilige
Stimmung gegebenen Ordnung und würde diese nicht bilden und bauen,
wenn sie nicht unbewußt zählte. Man kann auch die Geltung dieses Worts
nicht beschränken auf die elementaren Gesetze der Harmonie, wie sie der
musikalische Instinct unbewußt geschaffen hat und im Componiren unbewußt
befolgt; das ganz Individuelle der Tondichtung selbst ist ein unendlich
eigenes Schaffen neuer innerer Verhältnißstellungen des Gefühlslebens,
welche in ihren unendlichen Schwingungen der Geist gar nicht ordnen
könnte, wenn er sie sich nicht unbewußt als Puncte auseinanderhielte und
verbände und dieß ist eben ein unbewußtes Zählen. Ist nun das Kunst-
werk vollendet, so kann dieser unbewußte Prozeß zum bewußten erhoben
werden und muß es zum Behuf der Ausführung, ja der Erfinder selbst,
wenn er sein inneres Tönen und Weben in Zeichen niederlegt für diese,
muß bereits in das bewußte Zählen übergehen. Da aber die Zahl zwar
der einzige Ausdruck des Gefühlslebens, jedoch nicht das qualitative Wesen
des Gefühls selbst ist, so liegen diese zwei Prozesse, der unbewußte und
bewußte als zwei Welten auseinander: das fertige Werk kann wirklich nach-
gezählt werden, aber der beste Rechner hätte es darum nicht erfinden können,
denn es ist durch ein genial bewußtloses Zählen entstanden. Es verhält

zwiſchen ſich und der in ihm wiederklingenden Welt der Objecte inne wird.
Dieß aber läßt ſich nur durch die Zahl ausdrücken. Die Zahl iſt nicht das
Gefühl, denn dieſes iſt im höchſten Sinne qualitativ, aber unerſchloſſene,
dem Denken als einem Sprechen, der Begriffsbeſtimmung durch das Wort
verhüllte Qualität, und da dieſe Qualität doch eine ganz ſelbſtändige Form
iſt, in die ſich der ganze Geiſt legt, da ſie alſo doch ihre volle Welt innerer
Unterſchiede haben muß, ſo kann ſie ihren Ausdruck nur in dem finden,
was zwar nur quantitativ iſt, aber das Verhältnißleben des Qualitativen
formulirt. Der wache, ſcheidende Geiſt muß ſich in ſeinen Formen, wie
ſchon bemerkt iſt, auch durch Zahlen ausdrücken laſſen, aber da er ſagen
kann, was er iſt, ſo hat die Zahl ihre Nothwendigkeit, hiemit ihr Intereſſe
verloren. Es iſt falſch, gegen die Geltung des Pythagoräiſchen Prinzips
in der Weiſe der Ariſtoxeniker zu ſagen, das muſikaliſch Schöne komme nur
aus dem Gemüthe, nicht aus der Zahl, ſofern dieſer Polemik die Meinung
zu Grunde liegt, das Schöne des Gefühls würde zerſtört, wenn man es
als unendlichen Wechſel von Verhältnißſtellungen auffaßt: dieß ſcheinbar
höchſt Farbloſe, der Innigkeit Baare iſt allerdings das qualitative Innere
des Gefühls ſelbſt und die Zahl drückt es zwar nur aus, iſt es nicht ſelbſt,
weil ſie qualitätslos iſt, drückt es aber auch allein aus. Das bekannte
Wort des Leibnitz: musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis
se numerare animi (Epist. ad divers. I.,
144.) kann nur als höchſt geiſt-
reich anerkannt werden. Die Seele rechnet zwar nicht blos, aber ſie
durchläuft jene geiſtigen Verhältnißſtellungen in einer durch die jeweilige
Stimmung gegebenen Ordnung und würde dieſe nicht bilden und bauen,
wenn ſie nicht unbewußt zählte. Man kann auch die Geltung dieſes Worts
nicht beſchränken auf die elementaren Geſetze der Harmonie, wie ſie der
muſikaliſche Inſtinct unbewußt geſchaffen hat und im Componiren unbewußt
befolgt; das ganz Individuelle der Tondichtung ſelbſt iſt ein unendlich
eigenes Schaffen neuer innerer Verhältnißſtellungen des Gefühlslebens,
welche in ihren unendlichen Schwingungen der Geiſt gar nicht ordnen
könnte, wenn er ſie ſich nicht unbewußt als Puncte auseinanderhielte und
verbände und dieß iſt eben ein unbewußtes Zählen. Iſt nun das Kunſt-
werk vollendet, ſo kann dieſer unbewußte Prozeß zum bewußten erhoben
werden und muß es zum Behuf der Ausführung, ja der Erfinder ſelbſt,
wenn er ſein inneres Tönen und Weben in Zeichen niederlegt für dieſe,
muß bereits in das bewußte Zählen übergehen. Da aber die Zahl zwar
der einzige Ausdruck des Gefühlslebens, jedoch nicht das qualitative Weſen
des Gefühls ſelbſt iſt, ſo liegen dieſe zwei Prozeſſe, der unbewußte und
bewußte als zwei Welten auseinander: das fertige Werk kann wirklich nach-
gezählt werden, aber der beſte Rechner hätte es darum nicht erfinden können,
denn es iſt durch ein genial bewußtloſes Zählen entſtanden. Es verhält

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[822/0060] zwiſchen ſich und der in ihm wiederklingenden Welt der Objecte inne wird. Dieß aber läßt ſich nur durch die Zahl ausdrücken. Die Zahl iſt nicht das Gefühl, denn dieſes iſt im höchſten Sinne qualitativ, aber unerſchloſſene, dem Denken als einem Sprechen, der Begriffsbeſtimmung durch das Wort verhüllte Qualität, und da dieſe Qualität doch eine ganz ſelbſtändige Form iſt, in die ſich der ganze Geiſt legt, da ſie alſo doch ihre volle Welt innerer Unterſchiede haben muß, ſo kann ſie ihren Ausdruck nur in dem finden, was zwar nur quantitativ iſt, aber das Verhältnißleben des Qualitativen formulirt. Der wache, ſcheidende Geiſt muß ſich in ſeinen Formen, wie ſchon bemerkt iſt, auch durch Zahlen ausdrücken laſſen, aber da er ſagen kann, was er iſt, ſo hat die Zahl ihre Nothwendigkeit, hiemit ihr Intereſſe verloren. Es iſt falſch, gegen die Geltung des Pythagoräiſchen Prinzips in der Weiſe der Ariſtoxeniker zu ſagen, das muſikaliſch Schöne komme nur aus dem Gemüthe, nicht aus der Zahl, ſofern dieſer Polemik die Meinung zu Grunde liegt, das Schöne des Gefühls würde zerſtört, wenn man es als unendlichen Wechſel von Verhältnißſtellungen auffaßt: dieß ſcheinbar höchſt Farbloſe, der Innigkeit Baare iſt allerdings das qualitative Innere des Gefühls ſelbſt und die Zahl drückt es zwar nur aus, iſt es nicht ſelbſt, weil ſie qualitätslos iſt, drückt es aber auch allein aus. Das bekannte Wort des Leibnitz: musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi (Epist. ad divers. I., 144.) kann nur als höchſt geiſt- reich anerkannt werden. Die Seele rechnet zwar nicht blos, aber ſie durchläuft jene geiſtigen Verhältnißſtellungen in einer durch die jeweilige Stimmung gegebenen Ordnung und würde dieſe nicht bilden und bauen, wenn ſie nicht unbewußt zählte. Man kann auch die Geltung dieſes Worts nicht beſchränken auf die elementaren Geſetze der Harmonie, wie ſie der muſikaliſche Inſtinct unbewußt geſchaffen hat und im Componiren unbewußt befolgt; das ganz Individuelle der Tondichtung ſelbſt iſt ein unendlich eigenes Schaffen neuer innerer Verhältnißſtellungen des Gefühlslebens, welche in ihren unendlichen Schwingungen der Geiſt gar nicht ordnen könnte, wenn er ſie ſich nicht unbewußt als Puncte auseinanderhielte und verbände und dieß iſt eben ein unbewußtes Zählen. Iſt nun das Kunſt- werk vollendet, ſo kann dieſer unbewußte Prozeß zum bewußten erhoben werden und muß es zum Behuf der Ausführung, ja der Erfinder ſelbſt, wenn er ſein inneres Tönen und Weben in Zeichen niederlegt für dieſe, muß bereits in das bewußte Zählen übergehen. Da aber die Zahl zwar der einzige Ausdruck des Gefühlslebens, jedoch nicht das qualitative Weſen des Gefühls ſelbſt iſt, ſo liegen dieſe zwei Prozeſſe, der unbewußte und bewußte als zwei Welten auseinander: das fertige Werk kann wirklich nach- gezählt werden, aber der beſte Rechner hätte es darum nicht erfinden können, denn es iſt durch ein genial bewußtloſes Zählen entſtanden. Es verhält

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 822. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/60>, abgerufen am 02.05.2024.