wäre; sondern die Gesangkunst wird in Italien, losgetrennt von höherem dramatischem und tieferem Gemüthsausdruck, deßwegen für sich Object, weil das in ihr stattfindende vollkommene Heraustreten des Innern in äußere sinnliche Form, d. h. weil das drastisch Pathetische einer-, das anmuthig Weiche andrerseits, das im Gesange als unmittelbarer und vollster Aeußerung innerer Bewegtheit liegt, dem ebenso südlich lebhaften und leicht erregbaren als formbegierigen, klare Anschaulichkeit, treffende Wirkung, packenden Eindruck verlangenden italienischen Geiste als ein Höchstes und Letztes erscheint; der Gesang ist ihm für sich ein lebendiges plastisches Kunstwerk der bewegten Subjectivität, das als solches ihn be- friedigt, so daß der Inhalt Nebensache wird. Manches Schöne in Melodie und Ausdruck mag mit den zahllosen in den Schutt der Vergessenheit be- grabenen Opern der zwei ersten Jahrhunderte dieses Kunstzweiges bis jetzt verloren gegangen sein; aber die musikalische Dramatik konnte auf diesem Boden nicht gelingen.
§. 827.
In Deutschland geht aus der Musik der niederländischen Schule eine ähnliche Blüthe harmonisch melodischer Kunstmusik hervor, wie in Italien durch Palestrina. Aber zu ihr tritt mit dem Protestantismus die volksthümlichere, neben gleicher religiöser Tiefe kräftigere und lebensvollere Form des Chorals hinzu, welche auch auf jene Kunstmusik einen kräftig belebenden Einfluß aus- übt, wie die Musik in Deutschland überhaupt von Anfang an eine mehr auf innigen Gefühlsausdruck als auf Formschönheit gehende Richtung einschlägt. Ebendeßwegen aber entwickelt sich die deutsche Musik langsamer zu einer eigen- thümlichen Kunstform; erst im achtzehenten Jahrhundert erreicht sie in Sebastian Bach und Händel ihren erstmaligen Höhepunct. In dem ersten dieser beiden Heroen ist die ganze Strenge und Verwickeltheit harmonischer und polyphoner Kunst mit einer in die Formen derselben in vollster Wärme sich ergießenden Ge- müthsinnigkeit und Gefühlslebendigkeit, sowie mit treffender, bis zum Dramatischen fortgehender Charakteristik in einer Art und Weise verbunden, welche das Prinzip des indirecten Idealismus in erhabenster Verwirklichung darstellt, aber das plastische Element der Abrundung, der Durchsichtigkeit, der kunstvollern Disposition des Tonwerks, der einfach großartigen Stylisirung, der klaren entscheidenden musikalischen Wirkung noch nicht ausbildet. Dieses Element tritt, durch italienischen Einfluß bedingt, in Händel auf, aber durch und durch gesättigt mit Ernst des Gefühls, mit Größe des Gedankens und Charakters, mit umfassender, auch das Zarte und Liebliche in anmuthigen, jedoch immer kraftdurchwehten Formen darstellender, die Polyphonie zwar beschränkender, aber die einfachere Harmonie nur um so erhabener verwendender Universalität des Ausdrucks. Während S. Bach seiner Eigenthümlichkeit gemäß die formen-
wäre; ſondern die Geſangkunſt wird in Italien, losgetrennt von höherem dramatiſchem und tieferem Gemüthsausdruck, deßwegen für ſich Object, weil das in ihr ſtattfindende vollkommene Heraustreten des Innern in äußere ſinnliche Form, d. h. weil das draſtiſch Pathetiſche einer-, das anmuthig Weiche andrerſeits, das im Geſange als unmittelbarer und vollſter Aeußerung innerer Bewegtheit liegt, dem ebenſo ſüdlich lebhaften und leicht erregbaren als formbegierigen, klare Anſchaulichkeit, treffende Wirkung, packenden Eindruck verlangenden italieniſchen Geiſte als ein Höchſtes und Letztes erſcheint; der Geſang iſt ihm für ſich ein lebendiges plaſtiſches Kunſtwerk der bewegten Subjectivität, das als ſolches ihn be- friedigt, ſo daß der Inhalt Nebenſache wird. Manches Schöne in Melodie und Ausdruck mag mit den zahlloſen in den Schutt der Vergeſſenheit be- grabenen Opern der zwei erſten Jahrhunderte dieſes Kunſtzweiges bis jetzt verloren gegangen ſein; aber die muſikaliſche Dramatik konnte auf dieſem Boden nicht gelingen.
§. 827.
In Deutſchland geht aus der Muſik der niederländiſchen Schule eine ähnliche Blüthe harmoniſch melodiſcher Kunſtmuſik hervor, wie in Italien durch Paleſtrina. Aber zu ihr tritt mit dem Proteſtantismus die volksthümlichere, neben gleicher religiöſer Tiefe kräftigere und lebensvollere Form des Chorals hinzu, welche auch auf jene Kunſtmuſik einen kräftig belebenden Einfluß aus- übt, wie die Muſik in Deutſchland überhaupt von Anfang an eine mehr auf innigen Gefühlsausdruck als auf Formſchönheit gehende Richtung einſchlägt. Ebendeßwegen aber entwickelt ſich die deutſche Muſik langſamer zu einer eigen- thümlichen Kunſtform; erſt im achtzehenten Jahrhundert erreicht ſie in Sebaſtian Bach und Händel ihren erſtmaligen Höhepunct. In dem erſten dieſer beiden Heroen iſt die ganze Strenge und Verwickeltheit harmoniſcher und polyphoner Kunſt mit einer in die Formen derſelben in vollſter Wärme ſich ergießenden Ge- müthsinnigkeit und Gefühlslebendigkeit, ſowie mit treffender, bis zum Dramatiſchen fortgehender Charakteriſtik in einer Art und Weiſe verbunden, welche das Prinzip des indirecten Idealiſmus in erhabenſter Verwirklichung darſtellt, aber das plaſtiſche Element der Abrundung, der Durchſichtigkeit, der kunſtvollern Dispoſition des Tonwerks, der einfach großartigen Styliſirung, der klaren entſcheidenden muſikaliſchen Wirkung noch nicht ausbildet. Dieſes Element tritt, durch italieniſchen Einfluß bedingt, in Händel auf, aber durch und durch geſättigt mit Ernſt des Gefühls, mit Größe des Gedankens und Charakters, mit umfaſſender, auch das Zarte und Liebliche in anmuthigen, jedoch immer kraftdurchwehten Formen darſtellender, die Polyphonie zwar beſchränkender, aber die einfachere Harmonie nur um ſo erhabener verwendender Univerſalität des Ausdrucks. Während S. Bach ſeiner Eigenthümlichkeit gemäß die formen-
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[1139/0377]
wäre; ſondern die Geſangkunſt wird in Italien, losgetrennt von höherem
dramatiſchem und tieferem Gemüthsausdruck, deßwegen für ſich Object,
weil das in ihr ſtattfindende vollkommene Heraustreten des Innern in
äußere ſinnliche Form, d. h. weil das draſtiſch Pathetiſche einer-, das
anmuthig Weiche andrerſeits, das im Geſange als unmittelbarer und
vollſter Aeußerung innerer Bewegtheit liegt, dem ebenſo ſüdlich lebhaften
und leicht erregbaren als formbegierigen, klare Anſchaulichkeit, treffende
Wirkung, packenden Eindruck verlangenden italieniſchen Geiſte als ein
Höchſtes und Letztes erſcheint; der Geſang iſt ihm für ſich ein lebendiges
plaſtiſches Kunſtwerk der bewegten Subjectivität, das als ſolches ihn be-
friedigt, ſo daß der Inhalt Nebenſache wird. Manches Schöne in Melodie
und Ausdruck mag mit den zahlloſen in den Schutt der Vergeſſenheit be-
grabenen Opern der zwei erſten Jahrhunderte dieſes Kunſtzweiges bis jetzt
verloren gegangen ſein; aber die muſikaliſche Dramatik konnte auf dieſem
Boden nicht gelingen.
§. 827.
In Deutſchland geht aus der Muſik der niederländiſchen Schule eine
ähnliche Blüthe harmoniſch melodiſcher Kunſtmuſik hervor, wie in Italien durch
Paleſtrina. Aber zu ihr tritt mit dem Proteſtantismus die volksthümlichere,
neben gleicher religiöſer Tiefe kräftigere und lebensvollere Form des Chorals
hinzu, welche auch auf jene Kunſtmuſik einen kräftig belebenden Einfluß aus-
übt, wie die Muſik in Deutſchland überhaupt von Anfang an eine mehr auf
innigen Gefühlsausdruck als auf Formſchönheit gehende Richtung einſchlägt.
Ebendeßwegen aber entwickelt ſich die deutſche Muſik langſamer zu einer eigen-
thümlichen Kunſtform; erſt im achtzehenten Jahrhundert erreicht ſie in Sebaſtian
Bach und Händel ihren erſtmaligen Höhepunct. In dem erſten dieſer beiden
Heroen iſt die ganze Strenge und Verwickeltheit harmoniſcher und polyphoner
Kunſt mit einer in die Formen derſelben in vollſter Wärme ſich ergießenden Ge-
müthsinnigkeit und Gefühlslebendigkeit, ſowie mit treffender, bis zum Dramatiſchen
fortgehender Charakteriſtik in einer Art und Weiſe verbunden, welche das
Prinzip des indirecten Idealiſmus in erhabenſter Verwirklichung darſtellt, aber
das plaſtiſche Element der Abrundung, der Durchſichtigkeit, der kunſtvollern
Dispoſition des Tonwerks, der einfach großartigen Styliſirung, der klaren
entſcheidenden muſikaliſchen Wirkung noch nicht ausbildet. Dieſes Element
tritt, durch italieniſchen Einfluß bedingt, in Händel auf, aber durch und durch
geſättigt mit Ernſt des Gefühls, mit Größe des Gedankens und Charakters,
mit umfaſſender, auch das Zarte und Liebliche in anmuthigen, jedoch immer
kraftdurchwehten Formen darſtellender, die Polyphonie zwar beſchränkender,
aber die einfachere Harmonie nur um ſo erhabener verwendender Univerſalität
des Ausdrucks. Während S. Bach ſeiner Eigenthümlichkeit gemäß die formen-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/377>, abgerufen am 25.11.2024.
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