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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Empfindungen ist u. s. f. Die musikalische Composition ist nun allerdings
genöthigt, aus dieser Unendlichkeit von Erregungen eine einzelne Haupt-
stimmung und ihren Verlauf herauszugreifen, aber die Symphonie und der
einzelne Symphoniesatz entwirft doch diese Stimmungsbilder schon in einem
so großen Maaßstabe, daß jenes Moment des Fortgangs von Ursache zu
Wirkung, von Motiv zu Resultat in ihm nicht fehlen darf. Dieß wird
noch bestimmter erhellen, wenn wir mit Rücksicht auf die früher den einzelnen
Sätzen der Symphonie zugewiesene Stellung und unter Zurückgehen auf
die psychologische Begründung jenes "Fortgangs" uns genauere Rechenschaft
darüber geben, wie hier die Musik verfahren muß, und warum uns das
Uebergehen von Einem Hauptgedanken zu einem zweiten, wie wir es ge-
wöhnlich hören, so durchaus natürlich und befriedigend erscheint. Der erste
Allegrosatz ist (§. 815, 1) ein erregter, kräftig belebter; je mehr dieß der
Fall, je unruhiger und gespannter die Erregung ist, mit der er gleich oder
nach vorbereitenden kleinern Sätzen beginnt, je mehr sie sich sodann gesteigert,
erbreitert und verdichtet hat, desto mehr ist zu erwarten, daß das Gemüth
aus ihr wieder zu sich selbst kommt, zurückblickt, der Stimmung sich bewußt
wird, in welche es durch jene erste Erregung versetzt ist; der Affect, die
Unruhe, die heftige Schmerzergriffenheit, der Aufschwung, die Begeisterung
u. s. w., hinterläßt eine Stimmung, ein Gefühl, in welchem das Gemüth
eben empfindet, wie ihm in Folge des Affects u. s. w. übel oder wohl zu
Muthe ist, oder führt er zu einem neuen, in der Regel jedoch gefaßtern,
weniger unruhigen Affect hinüber, der aus ihm selbst psychologisch sich er-
gibt, z. B. die Schmerzergriffenheit zur Sehnsucht nach Freiheit u. s. f.;
das menschliche Gefühlsleben strömt, weil es ein bewußtes ist, nicht
mechanisch uno tenore fort, sondern es ist Prozeß, in welchem aus der
Affection, welcher das Gemüth zunächst hingegeben ist, etwas Neues, ein
ruhigeres, gesammelteres Gefühl des Zustands, in den die Affection das
Ich versetzt, sich entwickelt; das Ich nimmt sich aus der einseitigen Erregt-
heit, durch die es afficirt war, in sich zurück, wird seiner selbst wieder inne,
es stellt dem das Bewußtsein aus sich herausreißenden Affect immer wieder
das Gefühl gegenüber, in welchem es wieder rein bei sich ist, aus welchem
aber ebenso neue Affecte sich wieder entwickeln können. Auch kann der erste
Affect wieder in den Vordergrund des Gefühlslebens treten, wieder Meister
werden, sich verstärken, gerade weil er zurückgedrängt war und noch nicht
ganz durchgekämpft ist -- diesen Höhepunct hat der den zweiten Theil er-
öffnende "Mittelsatz" darzustellen; -- aber ganz allein kann er nicht
dominiren, das wäre ungeistig, und darum läßt die Symphonie (wie auch
Sonate, Quartett u. s. w., für welche dieß Alles gleichfalls gilt) den ersten
bewegten Hauptgedanken fortführen zu einem zweiten, der innerhalb des
einzelnen Symphoniesatzes eine ähnliche Stellung einnimmt, wie das Andante

Empfindungen iſt u. ſ. f. Die muſikaliſche Compoſition iſt nun allerdings
genöthigt, aus dieſer Unendlichkeit von Erregungen eine einzelne Haupt-
ſtimmung und ihren Verlauf herauszugreifen, aber die Symphonie und der
einzelne Symphonieſatz entwirft doch dieſe Stimmungsbilder ſchon in einem
ſo großen Maaßſtabe, daß jenes Moment des Fortgangs von Urſache zu
Wirkung, von Motiv zu Reſultat in ihm nicht fehlen darf. Dieß wird
noch beſtimmter erhellen, wenn wir mit Rückſicht auf die früher den einzelnen
Sätzen der Symphonie zugewieſene Stellung und unter Zurückgehen auf
die pſychologiſche Begründung jenes „Fortgangs“ uns genauere Rechenſchaft
darüber geben, wie hier die Muſik verfahren muß, und warum uns das
Uebergehen von Einem Hauptgedanken zu einem zweiten, wie wir es ge-
wöhnlich hören, ſo durchaus natürlich und befriedigend erſcheint. Der erſte
Allegroſatz iſt (§. 815, 1) ein erregter, kräftig belebter; je mehr dieß der
Fall, je unruhiger und geſpannter die Erregung iſt, mit der er gleich oder
nach vorbereitenden kleinern Sätzen beginnt, je mehr ſie ſich ſodann geſteigert,
erbreitert und verdichtet hat, deſto mehr iſt zu erwarten, daß das Gemüth
aus ihr wieder zu ſich ſelbſt kommt, zurückblickt, der Stimmung ſich bewußt
wird, in welche es durch jene erſte Erregung verſetzt iſt; der Affect, die
Unruhe, die heftige Schmerzergriffenheit, der Aufſchwung, die Begeiſterung
u. ſ. w., hinterläßt eine Stimmung, ein Gefühl, in welchem das Gemüth
eben empfindet, wie ihm in Folge des Affects u. ſ. w. übel oder wohl zu
Muthe iſt, oder führt er zu einem neuen, in der Regel jedoch gefaßtern,
weniger unruhigen Affect hinüber, der aus ihm ſelbſt pſychologiſch ſich er-
gibt, z. B. die Schmerzergriffenheit zur Sehnſucht nach Freiheit u. ſ. f.;
das menſchliche Gefühlsleben ſtrömt, weil es ein bewußtes iſt, nicht
mechaniſch uno tenore fort, ſondern es iſt Prozeß, in welchem aus der
Affection, welcher das Gemüth zunächſt hingegeben iſt, etwas Neues, ein
ruhigeres, geſammelteres Gefühl des Zuſtands, in den die Affection das
Ich verſetzt, ſich entwickelt; das Ich nimmt ſich aus der einſeitigen Erregt-
heit, durch die es afficirt war, in ſich zurück, wird ſeiner ſelbſt wieder inne,
es ſtellt dem das Bewußtſein aus ſich herausreißenden Affect immer wieder
das Gefühl gegenüber, in welchem es wieder rein bei ſich iſt, aus welchem
aber ebenſo neue Affecte ſich wieder entwickeln können. Auch kann der erſte
Affect wieder in den Vordergrund des Gefühlslebens treten, wieder Meiſter
werden, ſich verſtärken, gerade weil er zurückgedrängt war und noch nicht
ganz durchgekämpft iſt — dieſen Höhepunct hat der den zweiten Theil er-
öffnende „Mittelſatz“ darzuſtellen; — aber ganz allein kann er nicht
dominiren, das wäre ungeiſtig, und darum läßt die Symphonie (wie auch
Sonate, Quartett u. ſ. w., für welche dieß Alles gleichfalls gilt) den erſten
bewegten Hauptgedanken fortführen zu einem zweiten, der innerhalb des
einzelnen Symphonieſatzes eine ähnliche Stellung einnimmt, wie das Andante

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[1096/0334] Empfindungen iſt u. ſ. f. Die muſikaliſche Compoſition iſt nun allerdings genöthigt, aus dieſer Unendlichkeit von Erregungen eine einzelne Haupt- ſtimmung und ihren Verlauf herauszugreifen, aber die Symphonie und der einzelne Symphonieſatz entwirft doch dieſe Stimmungsbilder ſchon in einem ſo großen Maaßſtabe, daß jenes Moment des Fortgangs von Urſache zu Wirkung, von Motiv zu Reſultat in ihm nicht fehlen darf. Dieß wird noch beſtimmter erhellen, wenn wir mit Rückſicht auf die früher den einzelnen Sätzen der Symphonie zugewieſene Stellung und unter Zurückgehen auf die pſychologiſche Begründung jenes „Fortgangs“ uns genauere Rechenſchaft darüber geben, wie hier die Muſik verfahren muß, und warum uns das Uebergehen von Einem Hauptgedanken zu einem zweiten, wie wir es ge- wöhnlich hören, ſo durchaus natürlich und befriedigend erſcheint. Der erſte Allegroſatz iſt (§. 815, 1) ein erregter, kräftig belebter; je mehr dieß der Fall, je unruhiger und geſpannter die Erregung iſt, mit der er gleich oder nach vorbereitenden kleinern Sätzen beginnt, je mehr ſie ſich ſodann geſteigert, erbreitert und verdichtet hat, deſto mehr iſt zu erwarten, daß das Gemüth aus ihr wieder zu ſich ſelbſt kommt, zurückblickt, der Stimmung ſich bewußt wird, in welche es durch jene erſte Erregung verſetzt iſt; der Affect, die Unruhe, die heftige Schmerzergriffenheit, der Aufſchwung, die Begeiſterung u. ſ. w., hinterläßt eine Stimmung, ein Gefühl, in welchem das Gemüth eben empfindet, wie ihm in Folge des Affects u. ſ. w. übel oder wohl zu Muthe iſt, oder führt er zu einem neuen, in der Regel jedoch gefaßtern, weniger unruhigen Affect hinüber, der aus ihm ſelbſt pſychologiſch ſich er- gibt, z. B. die Schmerzergriffenheit zur Sehnſucht nach Freiheit u. ſ. f.; das menſchliche Gefühlsleben ſtrömt, weil es ein bewußtes iſt, nicht mechaniſch uno tenore fort, ſondern es iſt Prozeß, in welchem aus der Affection, welcher das Gemüth zunächſt hingegeben iſt, etwas Neues, ein ruhigeres, geſammelteres Gefühl des Zuſtands, in den die Affection das Ich verſetzt, ſich entwickelt; das Ich nimmt ſich aus der einſeitigen Erregt- heit, durch die es afficirt war, in ſich zurück, wird ſeiner ſelbſt wieder inne, es ſtellt dem das Bewußtſein aus ſich herausreißenden Affect immer wieder das Gefühl gegenüber, in welchem es wieder rein bei ſich iſt, aus welchem aber ebenſo neue Affecte ſich wieder entwickeln können. Auch kann der erſte Affect wieder in den Vordergrund des Gefühlslebens treten, wieder Meiſter werden, ſich verſtärken, gerade weil er zurückgedrängt war und noch nicht ganz durchgekämpft iſt — dieſen Höhepunct hat der den zweiten Theil er- öffnende „Mittelſatz“ darzuſtellen; — aber ganz allein kann er nicht dominiren, das wäre ungeiſtig, und darum läßt die Symphonie (wie auch Sonate, Quartett u. ſ. w., für welche dieß Alles gleichfalls gilt) den erſten bewegten Hauptgedanken fortführen zu einem zweiten, der innerhalb des einzelnen Symphonieſatzes eine ähnliche Stellung einnimmt, wie das Andante

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1096. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/334>, abgerufen am 21.11.2024.