Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreise von sich ausschließt, und daß daher die Orgel für sich allein in ihren Wirkungen sehr beschränkt ist; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende ist sie unentbehrlich; denn nur sie legt den leichten, frei beweglichen, dem individuellen Belieben untergebenen, schwachen Organen der Stimme und der Einzelinstrumente eine festruhende, gewichtig stützende, nervig aushaltende Basis der Klangstärke und Harmoniefülle unter, welche der Gesammtbe- wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch die mittönende Orgel erscheint die Musik als eine Tonbewegung, zu welcher das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht in einsamer und einseitiger Subjectivität auftritt, sondern vermählt mit den gewaltigen Tonkräften des Universums und rings von ihnen umschlossen und getragen sich nach oben schwingt; wie die Arie des Individuums zum Chor der Gesammtheit, gerade so verhält sich die Musik der Einzelstimmen und Einzelinstrumente zu orgelbegleiteter Musik, nur daß Dasjenige, was die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und substantieller ist wegen der transscendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die subjective Musik umbrausen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der sie den leichtern, wechselvolleren Bewegungen der subjectiven Musikorgane gegenüber das flüchtige Tonelement zu ruhigfester Consistenz fixiren.
Die Frage, inwieweit die Orgel sich nicht blos zur Harmonie, sondern auch zur Polyphonie eigne, ist in verwandter Weise zu beantworten, wie beim Clavier. Manchen wird freilich schon das Aufwerfen dieser Frage wunderlich scheinen, da die größten Meister des polyphonen Satzes ihn gerade auch auf die Orgel mit besonderer Vorliebe angewandt haben. Aber die Orgel, wenigstens wie sie bisher war, hat die Helligkeit und Distinct- heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an- sprechenden Polyphonie zusammengesetzter Art erforderlich ist. Die Orgel ist "orchestrisch polyphon" durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche sie in ihren Registern vereinigen kann, aber zur kunstgerechten Polyphonie, zu welcher sie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung besitzt, paßt sie, die Sache vorurtheilsfrei angesehen, ganz vollkommen nur bei einfachern Sätzen und nur bei langsamem Tempo, bei schnellerem blos dann, wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern Musikorganen ausgeführten polyphonen Musik bilden; in diesem Falle wirkt sie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intensität und Fülle z. B. des Gesanges vortrefflich mit. Der Meister der Polyphonie wird sich freilich getrieben fühlen, das vielstimmige Organum, bei dessen Spiel er zudem nicht auf den Dienst der Hände beschränkt ist, zu künst- lichern Canon's, Fugen u. s. w. zu benützen; aber hier ist einer der Fälle, wo die Intentionen subjectiver Virtuosität und die Forderungen der Kunst
Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe- wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern, wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren.
Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern auch zur Polyphonie eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten, wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat die Helligkeit und Diſtinct- heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an- ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie, zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt, paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann, wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt- lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle, wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0284"n="1046"/>
Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich<lb/>
ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen<lb/>ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende<lb/>
iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem<lb/>
individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und<lb/>
der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende<lb/>
Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe-<lb/>
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch<lb/>
die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher<lb/>
das Ganze der <hirendition="#g">Weltharmonie</hi> mitklingt, als eine Bewegung, die nicht<lb/>
in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den<lb/>
gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen<lb/>
und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum<lb/>
Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen<lb/>
und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was<lb/>
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der<lb/>
transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik<lb/>
umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern,<lb/>
wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das<lb/>
flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern<lb/>
auch zur <hirendition="#g">Polyphonie</hi> eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten,<lb/>
wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage<lb/>
wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn<lb/>
gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber<lb/>
die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat <hirendition="#g">die</hi> Helligkeit und Diſtinct-<lb/>
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-<lb/>ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel<lb/>
iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche<lb/>ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie,<lb/>
zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt,<lb/>
paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei<lb/>
einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann,<lb/>
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern<lb/>
Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt<lb/>ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und<lb/>
Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie<lb/>
wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen<lb/>
Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt-<lb/>
lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle,<lb/>
wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1046/0284]
Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich
ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen
ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende
iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem
individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und
der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende
Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe-
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch
die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher
das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht
in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den
gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen
und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum
Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen
und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der
transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik
umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern,
wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das
flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren.
Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern
auch zur Polyphonie eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten,
wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage
wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn
gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber
die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat die Helligkeit und Diſtinct-
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-
ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel
iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche
ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie,
zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt,
paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei
einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann,
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern
Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt
ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und
Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie
wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen
Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt-
lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle,
wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1046. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/284>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.