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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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diese Natur des Gefühls streng zu fassen, muß man dasselbe rein für sich
nehmen, wie es empirisch nur als verschwindender Moment vorkommt.
Der Geist ist so sehr seinem innersten Wesen nach Bewußtsein, daß er
dasselbe nur augenblicklich im Bewußtlosen auslöschen kann und daß er
dieses, sowie es eingetreten, alsbald wieder mit jenem erfaßt. In der Er-
fahrung ist daher das Gefühl eigentlich stets vom Bewußtsein begleitet und
dieses gibt über dessen objectiven Ursprung bestimmte Aussage. Die bis-
herige Psychologie wußte die Lehre vom Gefühle nur dadurch zu einem
gewissen Umfang von Classificationen zu entwickeln, daß sie von reinen
Gefühlen solche unterschied, die einen ausgesprochenen objectiven Inhalt
haben; das Schwere ist freilich die Aussonderung des reinen Gefühls aus
seiner Vermischung mit dem Bewußtsein, aber das Wesen desselben liegt in
seiner Wahrheit gerade nur dann vor, wenn vom objectiven Inhalt, wor-
über das begleitende Bewußtsein Rechenschaft gibt, völlig abgesehen wird.
Wir haben Augenblicke, wo es uns frei und heiter, bang und wehmüthig,
mild, rauh, düster, warm, kalt u. s. w. zu Muth ist, wir wissen nicht
warum, wir ahnen ein Gut oder Uebel, erinnern uns dunkel eines solchen,
ohne es zu kennen; Antonio im Kaufmann von Venedig sagt, er wisse
nicht, was ihn traurig mache; wie er d'ran gekommen, wie's ihm angeweht,
von was für Stoff es sei, von was erzeugt, das solle er erst erfahren:
dieß sind die reinen Stimmungsmomente, aber eben nur Momente, denn
so wie wir versuchen, die Stimmung zu bezeichnen, gesellt sich schon das
Bewußtsein dazu, beginnt die Beziehung auf ein Object und folgt der Ueber-
gang in ein Denken oder ein Wollen. Wir können so das Gefühl zunächst
mit jenen Sinnen-Empfindungen vergleichen, welche uns kein Bild eines
Gegenstands vermitteln, wie der Tastsinn, sofern er nicht durch die Hand
sich von den Formen überzeugt, sondern nur Warm, Kalt, Glatt, Rauh
u. s. w. empfindet, der Geschmack und Geruch; das Bewußtsein entspricht
im Gegentheile genau oder dient vielmehr wirklich der Wahrnehmung durch
den Gesichtsinn, und wie ohne dessen Hülfe jene Sinne nichts vom Object
als solchem erfahren, so das Gefühl nichts ohne Hülfe des Bewußtseins.
Freilich geräth der erste Theil dieser Vergleichung dadurch in's Schwierige,
daß das Gefühl vielmehr einem höheren Sinne, dem Gehör, entspricht;
doch ohne daß wir für jetzt irgend näher darauf eingehen, dürfen wir bereits
geltend machen, daß das Gehör, obwohl auf ungleich geistigerer Stufe,
jenen dunkeln Sinnen tief verwandt ist. Um so unmittelbarer wird unsere
Begriffsreihe gefördert durch den andern Theil der Vergleichung; denn unser
obiger Satz, daß die bildende Kunst der psychischen Form des noch anti-
thetischen, aber dafür den Vortheil objectiver Klarheit genießenden Bewußt-
seins entspreche, erhält nun die nähere Begründung, daß das Organ, mit
welchem und für welches sie thätig ist, das Auge, die eigentliche Basis für

dieſe Natur des Gefühls ſtreng zu faſſen, muß man daſſelbe rein für ſich
nehmen, wie es empiriſch nur als verſchwindender Moment vorkommt.
Der Geiſt iſt ſo ſehr ſeinem innerſten Weſen nach Bewußtſein, daß er
daſſelbe nur augenblicklich im Bewußtloſen auslöſchen kann und daß er
dieſes, ſowie es eingetreten, alsbald wieder mit jenem erfaßt. In der Er-
fahrung iſt daher das Gefühl eigentlich ſtets vom Bewußtſein begleitet und
dieſes gibt über deſſen objectiven Urſprung beſtimmte Ausſage. Die bis-
herige Pſychologie wußte die Lehre vom Gefühle nur dadurch zu einem
gewiſſen Umfang von Claſſificationen zu entwickeln, daß ſie von reinen
Gefühlen ſolche unterſchied, die einen ausgeſprochenen objectiven Inhalt
haben; das Schwere iſt freilich die Ausſonderung des reinen Gefühls aus
ſeiner Vermiſchung mit dem Bewußtſein, aber das Weſen deſſelben liegt in
ſeiner Wahrheit gerade nur dann vor, wenn vom objectiven Inhalt, wor-
über das begleitende Bewußtſein Rechenſchaft gibt, völlig abgeſehen wird.
Wir haben Augenblicke, wo es uns frei und heiter, bang und wehmüthig,
mild, rauh, düſter, warm, kalt u. ſ. w. zu Muth iſt, wir wiſſen nicht
warum, wir ahnen ein Gut oder Uebel, erinnern uns dunkel eines ſolchen,
ohne es zu kennen; Antonio im Kaufmann von Venedig ſagt, er wiſſe
nicht, was ihn traurig mache; wie er d’ran gekommen, wie’s ihm angeweht,
von was für Stoff es ſei, von was erzeugt, das ſolle er erſt erfahren:
dieß ſind die reinen Stimmungsmomente, aber eben nur Momente, denn
ſo wie wir verſuchen, die Stimmung zu bezeichnen, geſellt ſich ſchon das
Bewußtſein dazu, beginnt die Beziehung auf ein Object und folgt der Ueber-
gang in ein Denken oder ein Wollen. Wir können ſo das Gefühl zunächſt
mit jenen Sinnen-Empfindungen vergleichen, welche uns kein Bild eines
Gegenſtands vermitteln, wie der Taſtſinn, ſofern er nicht durch die Hand
ſich von den Formen überzeugt, ſondern nur Warm, Kalt, Glatt, Rauh
u. ſ. w. empfindet, der Geſchmack und Geruch; das Bewußtſein entſpricht
im Gegentheile genau oder dient vielmehr wirklich der Wahrnehmung durch
den Geſichtſinn, und wie ohne deſſen Hülfe jene Sinne nichts vom Object
als ſolchem erfahren, ſo das Gefühl nichts ohne Hülfe des Bewußtſeins.
Freilich geräth der erſte Theil dieſer Vergleichung dadurch in’s Schwierige,
daß das Gefühl vielmehr einem höheren Sinne, dem Gehör, entſpricht;
doch ohne daß wir für jetzt irgend näher darauf eingehen, dürfen wir bereits
geltend machen, daß das Gehör, obwohl auf ungleich geiſtigerer Stufe,
jenen dunkeln Sinnen tief verwandt iſt. Um ſo unmittelbarer wird unſere
Begriffsreihe gefördert durch den andern Theil der Vergleichung; denn unſer
obiger Satz, daß die bildende Kunſt der pſychiſchen Form des noch anti-
thetiſchen, aber dafür den Vortheil objectiver Klarheit genießenden Bewußt-
ſeins entſpreche, erhält nun die nähere Begründung, daß das Organ, mit
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[783/0021] dieſe Natur des Gefühls ſtreng zu faſſen, muß man daſſelbe rein für ſich nehmen, wie es empiriſch nur als verſchwindender Moment vorkommt. Der Geiſt iſt ſo ſehr ſeinem innerſten Weſen nach Bewußtſein, daß er daſſelbe nur augenblicklich im Bewußtloſen auslöſchen kann und daß er dieſes, ſowie es eingetreten, alsbald wieder mit jenem erfaßt. In der Er- fahrung iſt daher das Gefühl eigentlich ſtets vom Bewußtſein begleitet und dieſes gibt über deſſen objectiven Urſprung beſtimmte Ausſage. Die bis- herige Pſychologie wußte die Lehre vom Gefühle nur dadurch zu einem gewiſſen Umfang von Claſſificationen zu entwickeln, daß ſie von reinen Gefühlen ſolche unterſchied, die einen ausgeſprochenen objectiven Inhalt haben; das Schwere iſt freilich die Ausſonderung des reinen Gefühls aus ſeiner Vermiſchung mit dem Bewußtſein, aber das Weſen deſſelben liegt in ſeiner Wahrheit gerade nur dann vor, wenn vom objectiven Inhalt, wor- über das begleitende Bewußtſein Rechenſchaft gibt, völlig abgeſehen wird. Wir haben Augenblicke, wo es uns frei und heiter, bang und wehmüthig, mild, rauh, düſter, warm, kalt u. ſ. w. zu Muth iſt, wir wiſſen nicht warum, wir ahnen ein Gut oder Uebel, erinnern uns dunkel eines ſolchen, ohne es zu kennen; Antonio im Kaufmann von Venedig ſagt, er wiſſe nicht, was ihn traurig mache; wie er d’ran gekommen, wie’s ihm angeweht, von was für Stoff es ſei, von was erzeugt, das ſolle er erſt erfahren: dieß ſind die reinen Stimmungsmomente, aber eben nur Momente, denn ſo wie wir verſuchen, die Stimmung zu bezeichnen, geſellt ſich ſchon das Bewußtſein dazu, beginnt die Beziehung auf ein Object und folgt der Ueber- gang in ein Denken oder ein Wollen. Wir können ſo das Gefühl zunächſt mit jenen Sinnen-Empfindungen vergleichen, welche uns kein Bild eines Gegenſtands vermitteln, wie der Taſtſinn, ſofern er nicht durch die Hand ſich von den Formen überzeugt, ſondern nur Warm, Kalt, Glatt, Rauh u. ſ. w. empfindet, der Geſchmack und Geruch; das Bewußtſein entſpricht im Gegentheile genau oder dient vielmehr wirklich der Wahrnehmung durch den Geſichtſinn, und wie ohne deſſen Hülfe jene Sinne nichts vom Object als ſolchem erfahren, ſo das Gefühl nichts ohne Hülfe des Bewußtſeins. Freilich geräth der erſte Theil dieſer Vergleichung dadurch in’s Schwierige, daß das Gefühl vielmehr einem höheren Sinne, dem Gehör, entſpricht; doch ohne daß wir für jetzt irgend näher darauf eingehen, dürfen wir bereits geltend machen, daß das Gehör, obwohl auf ungleich geiſtigerer Stufe, jenen dunkeln Sinnen tief verwandt iſt. Um ſo unmittelbarer wird unſere Begriffsreihe gefördert durch den andern Theil der Vergleichung; denn unſer obiger Satz, daß die bildende Kunſt der pſychiſchen Form des noch anti- thetiſchen, aber dafür den Vortheil objectiver Klarheit genießenden Bewußt- ſeins entſpreche, erhält nun die nähere Begründung, daß das Organ, mit welchem und für welches ſie thätig iſt, das Auge, die eigentliche Baſis für

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/21>, abgerufen am 19.04.2024.