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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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begnügen und nicht das tiefere, sondern nur das gewöhnliche, triviale
Seelenleben darstellen; das Bestreben, die Fülle des realen Scheins der
Dinge zu geben, kann ihn in der Einzelheit geistlos festhalten, er läßt
den Spiritus weg und klebt phlegmatisch am Boden der empirischen Wirk-
lichkeit. Von da bieten sich wieder besondere Abwege: den Mangel tiefen
Gehalts, wahrhaft erhebender Wirkung kann er durch die pikanten Reize
des Grassen (wovon später) oder des Lüsternen (§. 652 Schluß d. Anm.)
zu ersetzen suchen. -- Aus diesen Verirrungen erhellt also, daß beide
Style sich gegenseitig mitzutheilen, von einander zu lernen haben. Aber
nicht nur dieß. Die innere Einheit des Wesens der Malerei, im Ver-
fahren dargestellt als Einheit der Zeichnung und Farbe, setzt begriffsge-
mäß die wirkliche Aufhebung des Gegensatzes zum Ziel. Jedoch auch
das Streben nach diesem Ziel kann die Bewegung nie abschließen: das
Erreichte muß selbst wieder als ein nur Relatives erscheinen, selbst wieder
auf eine Seite des Gegensatzes fallen und das Streben beginnt wieder
von vornen. Dieß Alles wird die Geschichte unserer Kunst in voller
Wirklichkeit zeigen; in der That haben wir dieselbe mit dieser Betrachtung
vorbereitet, aber ihr nicht vorgegriffen; das Bild dieser gegensätzlichen,
das erreichte Ziel der Versöhnung immer wieder in neuen Weisen neu
aufstellenden Bewegung ist an sich und abgesehen von den empirischen Fac-
toren der Kunstgeschichte die Erscheinung des innern Wesens unserer, im
Grunde jeder Kunst, und der richtige Begriff davon ist schon für die
Styl-Lehre und die Lehre von den Zweigen eine unentbehrliche Voraus-
setzung. -- Schließlich noch eine Bemerkung im Rückblick auf §. 532 und
614. Zum ersteren §. ist gesagt: "man drückt durch das Wort Stylisiren
eine Idealität der Formenbehandlung aus, von der es fraglich ist, ob sie
dieser Kunst, diesem Kunstzweig zusage, ob sie nicht vielleicht in einem
gewissen Sinn zu schön, auf Kosten der Individualität schön sei u. s. w.;
im andern §. ist gesagt, daß der Styl der Plastik mit dem Begriffe
des Styls in seiner intensiven Bedeutung besonders innig und unmittelbar
zusammenfalle. Dieß bestätigt sich und findet lehrreiche Beleuchtung in
der Malerei. Redet man hier von Stylisiren, so hat man eine Formen-
gebung im Auge, die an das strengere Gesetz der Plastik gemahnt, und
es kann dieß ein Lob sein, aber der Tadel liegt nahe, weil, wenn man
Styl im emphatischen Sinne nimmt, die Malerei eben nicht stylisirt
oder doch dem Stylisiren nur eine eingeschränkte Berechtigung einräumt.

§. 677.

In seiner Anwendung auf die landschaftliche Schönheit fordert dieses
oberste Stylgesetz örtliche Physiognomie, öffnet das Reich der Zufälligkeiten,

begnügen und nicht das tiefere, ſondern nur das gewöhnliche, triviale
Seelenleben darſtellen; das Beſtreben, die Fülle des realen Scheins der
Dinge zu geben, kann ihn in der Einzelheit geiſtlos feſthalten, er läßt
den Spiritus weg und klebt phlegmatiſch am Boden der empiriſchen Wirk-
lichkeit. Von da bieten ſich wieder beſondere Abwege: den Mangel tiefen
Gehalts, wahrhaft erhebender Wirkung kann er durch die pikanten Reize
des Graſſen (wovon ſpäter) oder des Lüſternen (§. 652 Schluß d. Anm.)
zu erſetzen ſuchen. — Aus dieſen Verirrungen erhellt alſo, daß beide
Style ſich gegenſeitig mitzutheilen, von einander zu lernen haben. Aber
nicht nur dieß. Die innere Einheit des Weſens der Malerei, im Ver-
fahren dargeſtellt als Einheit der Zeichnung und Farbe, ſetzt begriffsge-
mäß die wirkliche Aufhebung des Gegenſatzes zum Ziel. Jedoch auch
das Streben nach dieſem Ziel kann die Bewegung nie abſchließen: das
Erreichte muß ſelbſt wieder als ein nur Relatives erſcheinen, ſelbſt wieder
auf eine Seite des Gegenſatzes fallen und das Streben beginnt wieder
von vornen. Dieß Alles wird die Geſchichte unſerer Kunſt in voller
Wirklichkeit zeigen; in der That haben wir dieſelbe mit dieſer Betrachtung
vorbereitet, aber ihr nicht vorgegriffen; das Bild dieſer gegenſätzlichen,
das erreichte Ziel der Verſöhnung immer wieder in neuen Weiſen neu
aufſtellenden Bewegung iſt an ſich und abgeſehen von den empiriſchen Fac-
toren der Kunſtgeſchichte die Erſcheinung des innern Weſens unſerer, im
Grunde jeder Kunſt, und der richtige Begriff davon iſt ſchon für die
Styl-Lehre und die Lehre von den Zweigen eine unentbehrliche Voraus-
ſetzung. — Schließlich noch eine Bemerkung im Rückblick auf §. 532 und
614. Zum erſteren §. iſt geſagt: „man drückt durch das Wort Styliſiren
eine Idealität der Formenbehandlung aus, von der es fraglich iſt, ob ſie
dieſer Kunſt, dieſem Kunſtzweig zuſage, ob ſie nicht vielleicht in einem
gewiſſen Sinn zu ſchön, auf Koſten der Individualität ſchön ſei u. ſ. w.;
im andern §. iſt geſagt, daß der Styl der Plaſtik mit dem Begriffe
des Styls in ſeiner intenſiven Bedeutung beſonders innig und unmittelbar
zuſammenfalle. Dieß beſtätigt ſich und findet lehrreiche Beleuchtung in
der Malerei. Redet man hier von Styliſiren, ſo hat man eine Formen-
gebung im Auge, die an das ſtrengere Geſetz der Plaſtik gemahnt, und
es kann dieß ein Lob ſein, aber der Tadel liegt nahe, weil, wenn man
Styl im emphatiſchen Sinne nimmt, die Malerei eben nicht ſtyliſirt
oder doch dem Styliſiren nur eine eingeſchränkte Berechtigung einräumt.

§. 677.

In ſeiner Anwendung auf die landſchaftliche Schönheit fordert dieſes
oberſte Stylgeſetz örtliche Phyſiognomie, öffnet das Reich der Zufälligkeiten,

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[581/0089] begnügen und nicht das tiefere, ſondern nur das gewöhnliche, triviale Seelenleben darſtellen; das Beſtreben, die Fülle des realen Scheins der Dinge zu geben, kann ihn in der Einzelheit geiſtlos feſthalten, er läßt den Spiritus weg und klebt phlegmatiſch am Boden der empiriſchen Wirk- lichkeit. Von da bieten ſich wieder beſondere Abwege: den Mangel tiefen Gehalts, wahrhaft erhebender Wirkung kann er durch die pikanten Reize des Graſſen (wovon ſpäter) oder des Lüſternen (§. 652 Schluß d. Anm.) zu erſetzen ſuchen. — Aus dieſen Verirrungen erhellt alſo, daß beide Style ſich gegenſeitig mitzutheilen, von einander zu lernen haben. Aber nicht nur dieß. Die innere Einheit des Weſens der Malerei, im Ver- fahren dargeſtellt als Einheit der Zeichnung und Farbe, ſetzt begriffsge- mäß die wirkliche Aufhebung des Gegenſatzes zum Ziel. Jedoch auch das Streben nach dieſem Ziel kann die Bewegung nie abſchließen: das Erreichte muß ſelbſt wieder als ein nur Relatives erſcheinen, ſelbſt wieder auf eine Seite des Gegenſatzes fallen und das Streben beginnt wieder von vornen. Dieß Alles wird die Geſchichte unſerer Kunſt in voller Wirklichkeit zeigen; in der That haben wir dieſelbe mit dieſer Betrachtung vorbereitet, aber ihr nicht vorgegriffen; das Bild dieſer gegenſätzlichen, das erreichte Ziel der Verſöhnung immer wieder in neuen Weiſen neu aufſtellenden Bewegung iſt an ſich und abgeſehen von den empiriſchen Fac- toren der Kunſtgeſchichte die Erſcheinung des innern Weſens unſerer, im Grunde jeder Kunſt, und der richtige Begriff davon iſt ſchon für die Styl-Lehre und die Lehre von den Zweigen eine unentbehrliche Voraus- ſetzung. — Schließlich noch eine Bemerkung im Rückblick auf §. 532 und 614. Zum erſteren §. iſt geſagt: „man drückt durch das Wort Styliſiren eine Idealität der Formenbehandlung aus, von der es fraglich iſt, ob ſie dieſer Kunſt, dieſem Kunſtzweig zuſage, ob ſie nicht vielleicht in einem gewiſſen Sinn zu ſchön, auf Koſten der Individualität ſchön ſei u. ſ. w.; im andern §. iſt geſagt, daß der Styl der Plaſtik mit dem Begriffe des Styls in ſeiner intenſiven Bedeutung beſonders innig und unmittelbar zuſammenfalle. Dieß beſtätigt ſich und findet lehrreiche Beleuchtung in der Malerei. Redet man hier von Styliſiren, ſo hat man eine Formen- gebung im Auge, die an das ſtrengere Geſetz der Plaſtik gemahnt, und es kann dieß ein Lob ſein, aber der Tadel liegt nahe, weil, wenn man Styl im emphatiſchen Sinne nimmt, die Malerei eben nicht ſtyliſirt oder doch dem Styliſiren nur eine eingeſchränkte Berechtigung einräumt. §. 677. In ſeiner Anwendung auf die landſchaftliche Schönheit fordert dieſes oberſte Stylgeſetz örtliche Phyſiognomie, öffnet das Reich der Zufälligkeiten,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/89>, abgerufen am 28.04.2024.