Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
Wärme sehr leicht in pathologischen Reiz übergehe. Eine Titianische Venus Vischer's Aesthetik. 3. Band. 35
Wärme ſehr leicht in pathologiſchen Reiz übergehe. Eine Titianiſche Venus Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 35
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0029" n="521"/> Wärme ſehr leicht in pathologiſchen Reiz übergehe. Eine Titianiſche Venus<lb/> mit dem warmen Blut-Tone, dem roſigen Anfluge des Fleiſches,<lb/> dem wollüſtig leuchtenden Auge ſcheint, verglichen mit einer medizeiſchen,<lb/> die, obwohl eben nicht im keuſchen, hohen Style gehalten, doch gewiß<lb/> ungleich ruhiger wirkt, als jene, eben kein Beweis für den Satz, daß der<lb/> Charakter der Malerei ein geiſtigerer ſei. Um dieſen ſcheinbaren Wider-<lb/> ſpruch zurechtzurücken, muß man zuerſt zwei Gebiete unterſcheiden. Wo<lb/> es gilt, ernſtes inneres Leben, Charakter, tief innerliche Empfindungen<lb/> darzuſtellen, kann kein Zweifel ſein, daß in den Mitteln und der Dar-<lb/> ſtellungsweiſe der Malerei Alles das liegt, was wir ausgeſprochen haben.<lb/> Bewegt ſich ein dargeſtellter Moment aus dieſem Gebiete durch Gefühle<lb/> des Leidens, ſo wird das Bild derſelben allerdings ſympathetiſch ſtärker<lb/> wirken, als in der Sculptur, aber auch die geiſtige Kraft der Ueberwin-<lb/> dung des Leidens wird tiefer zum Ausdruck kommen und das Gleichge-<lb/> wicht herſtellen, den Anreiz zu pathologiſchem Verhalten niederſchlagen.<lb/> Allerdings wird nun die Malerei auch ihr Gebiet naturvoller, unverhüllter<lb/> Grazie haben und wir werden die Stylrichtung, welche dazu vorzüglich<lb/> hinneigt, im Gegenſatz gegen eine andere kennen lernen. Dieſe Dar-<lb/> ſtellungen müſſen nun allerdings durch die Gewalt der Farbe heißer wir-<lb/> ken, Blut und Nerv im Bilde müſſen Blut und Nerv im Zuſchauer un-<lb/> mittelbarer faſſen, als ein Sculpturwerk derſelben Gattung; es ſcheint alſo<lb/> unrichtig, der Malerei im Allgemeinen den Charakter tieferer Geiſtigkeit<lb/> beizulegen. Allein es iſt hier eine doppelte Art der Sinnlichkeit zu unter-<lb/> ſcheiden: eine unmittelbare und eine geiſtig reflectirte. Die erſtere, welche<lb/> der Bildnerkunſt zukommt, eröffnet dem Zuſchauer wohl den Blick in ein<lb/> einfach heiteres, geſundes Daſein, aber nicht in die Tiefe eines beſondern<lb/> Temperaments, einer phantaſievoll entzündeten innern Welt; die zweite<lb/> zeigt mit der äußern Fülle der Schönheit uns die innere Werkſtätte des<lb/> individuellen Zuſtands und des geiſtigen Lebens, wie eine fröhliche, lau-<lb/> tere Sinnenfreude in ſein Inneres hinein und aus ihm hervorſcheint, das<lb/> Sinnliche ſelbſt iſt innerlicher. Der Anſchauende wird tiefer erfaßt, leb-<lb/> hafter, inniger hineingezogen, aber dieſes innerlicher entzündete Gefühl<lb/> des Lieblichen und Reizenden bleibt bei allem Unterſchied ein unſchuldiges<lb/> ſo gut als die, dem verharrenden, blutloſen Bildwerk gegenüber ruhiger<lb/> verharrende Empfindung. Daß jedoch die Gefahr des Uebergangs zum<lb/> falſchen, verführeriſchen, durch Reflectirheit nur doppelt übeln Reiz der<lb/> Malerei noch näher liegt, als der Plaſtik, iſt natürlich nicht zu läugnen. —<lb/> Schließlich iſt noch ein Wort über den Begriff des Sprechenden zu ſagen,<lb/> den wir aus gutem Grunde bei jeder Kunſtform wieder auffaſſen. Auch<lb/> der Malerei iſt die Zunge noch nicht gelöst, aber wenn wir jenes Hervor-<lb/> leuchtenlaſſen des Geiſtes uneigentlich ein Sprechen nennen, ſo iſt dieſe</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 3. Band. 35</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [521/0029]
Wärme ſehr leicht in pathologiſchen Reiz übergehe. Eine Titianiſche Venus
mit dem warmen Blut-Tone, dem roſigen Anfluge des Fleiſches,
dem wollüſtig leuchtenden Auge ſcheint, verglichen mit einer medizeiſchen,
die, obwohl eben nicht im keuſchen, hohen Style gehalten, doch gewiß
ungleich ruhiger wirkt, als jene, eben kein Beweis für den Satz, daß der
Charakter der Malerei ein geiſtigerer ſei. Um dieſen ſcheinbaren Wider-
ſpruch zurechtzurücken, muß man zuerſt zwei Gebiete unterſcheiden. Wo
es gilt, ernſtes inneres Leben, Charakter, tief innerliche Empfindungen
darzuſtellen, kann kein Zweifel ſein, daß in den Mitteln und der Dar-
ſtellungsweiſe der Malerei Alles das liegt, was wir ausgeſprochen haben.
Bewegt ſich ein dargeſtellter Moment aus dieſem Gebiete durch Gefühle
des Leidens, ſo wird das Bild derſelben allerdings ſympathetiſch ſtärker
wirken, als in der Sculptur, aber auch die geiſtige Kraft der Ueberwin-
dung des Leidens wird tiefer zum Ausdruck kommen und das Gleichge-
wicht herſtellen, den Anreiz zu pathologiſchem Verhalten niederſchlagen.
Allerdings wird nun die Malerei auch ihr Gebiet naturvoller, unverhüllter
Grazie haben und wir werden die Stylrichtung, welche dazu vorzüglich
hinneigt, im Gegenſatz gegen eine andere kennen lernen. Dieſe Dar-
ſtellungen müſſen nun allerdings durch die Gewalt der Farbe heißer wir-
ken, Blut und Nerv im Bilde müſſen Blut und Nerv im Zuſchauer un-
mittelbarer faſſen, als ein Sculpturwerk derſelben Gattung; es ſcheint alſo
unrichtig, der Malerei im Allgemeinen den Charakter tieferer Geiſtigkeit
beizulegen. Allein es iſt hier eine doppelte Art der Sinnlichkeit zu unter-
ſcheiden: eine unmittelbare und eine geiſtig reflectirte. Die erſtere, welche
der Bildnerkunſt zukommt, eröffnet dem Zuſchauer wohl den Blick in ein
einfach heiteres, geſundes Daſein, aber nicht in die Tiefe eines beſondern
Temperaments, einer phantaſievoll entzündeten innern Welt; die zweite
zeigt mit der äußern Fülle der Schönheit uns die innere Werkſtätte des
individuellen Zuſtands und des geiſtigen Lebens, wie eine fröhliche, lau-
tere Sinnenfreude in ſein Inneres hinein und aus ihm hervorſcheint, das
Sinnliche ſelbſt iſt innerlicher. Der Anſchauende wird tiefer erfaßt, leb-
hafter, inniger hineingezogen, aber dieſes innerlicher entzündete Gefühl
des Lieblichen und Reizenden bleibt bei allem Unterſchied ein unſchuldiges
ſo gut als die, dem verharrenden, blutloſen Bildwerk gegenüber ruhiger
verharrende Empfindung. Daß jedoch die Gefahr des Uebergangs zum
falſchen, verführeriſchen, durch Reflectirheit nur doppelt übeln Reiz der
Malerei noch näher liegt, als der Plaſtik, iſt natürlich nicht zu läugnen. —
Schließlich iſt noch ein Wort über den Begriff des Sprechenden zu ſagen,
den wir aus gutem Grunde bei jeder Kunſtform wieder auffaſſen. Auch
der Malerei iſt die Zunge noch nicht gelöst, aber wenn wir jenes Hervor-
leuchtenlaſſen des Geiſtes uneigentlich ein Sprechen nennen, ſo iſt dieſe
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 35
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