Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
Gewaltsames gibt. Malerisch sind aber auch die vielfach eingewobenen §. 722. Es folgt die Stufe des Uebergangs zur höchsten Blüthe, die durch einen
Gewaltſames gibt. Maleriſch ſind aber auch die vielfach eingewobenen §. 722. Es folgt die Stufe des Uebergangs zur höchſten Blüthe, die durch einen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0215" n="707"/> Gewaltſames gibt. Maleriſch ſind aber auch die vielfach eingewobenen<lb/> genreartigen, oft humoriſtiſchen Motive. Dieſe finden in der reichen<lb/> Legende mit der Ironie des Naturgeſetzes, die in ihren Wundern liegt,<lb/> ſattſame Anknüpfung, denn die mythiſche Stoffwelt erweitert jetzt mehr<lb/> und mehr ihre Kreiſe. Ihre Erweiterung iſt zugleich ein Herausdrängen<lb/> nach der urſprünglichen Stoffwelt; dieß iſt die tiefere Bedeutung ſolcher<lb/> Einflechtungen, die ſich denn auch keineswegs auf einzelne Züge be-<lb/> ſchränken. Der Drang nach der Wirklichkeit ſetzt nicht nur die mythiſche<lb/> Handlung an ſich nach Kräften in lebendige Realität, ſondern zieht als<lb/> Zuſchauer oder in näherer Betheiligung bei Ceremonienſcenen Gruppen von<lb/> Figuren herbei, in welchen neben dem Sittenbilde bereits auch die Ge-<lb/> ſchichtsmalerei als ſchwacher Keim ſichtbar iſt. Wir haben dieſe wichtige<lb/> Erſcheinung von nun an im Auge zu behalten und wo ſie ſtärker auftritt,<lb/> ausdrücklich herauszuſtellen. Wenn nun ſo die plaſtiſche Richtung auch<lb/> das Maleriſche, und zwar in reichem Maaß, in ſich aufnimmt, ſo fehlt<lb/> umgekehrt der maleriſchen das Plaſtiſche nicht, denn die Sieneſen ziehen<lb/> ſich zwar jetzt meiſt auf die einfachen Gruppen zurück, worin das unend-<lb/> liche Leben der Liebe zu ſeiner ſtillen Innigkeit ſich ſammelt, nicht zur<lb/> bewegten Handlung ſich erſchließt, ſie bleiben in der Zeichnung zurück,<lb/> ohne die Farbe in reicherer Weiſe, als für den Zweck dieſes Ausdrucks,<lb/> zu verwenden; ſie bleiben gebunden von einem Reſte byzantiniſcher Hager-<lb/> keit, während die Florentiner die typiſche Feſſel allmählich ſprengen und<lb/> ihre Schranke nur da finden, wo ihr Können endet; allein in einem<lb/> Ambruogio di Lorenzo bricht der Geiſt Duccio’s wieder durch, ja er breitet<lb/> ſich wie die Giottiſten in handlungsreicher Freske aus und die allegoriſchen<lb/> Figuren, die jene Darſtellung des guten und ſchlechten Regiments im<lb/> Rathhauſe zu Siena zuſammenfaſſen, ſind von antiker Schönheit. Doch<lb/> auch die ſtille Seelen-Anmuth dieſer Sieneſen in den holden Madonnen-<lb/> köpfen mit den griechiſchen Naſen kann man nicht im engſten maleriſchen<lb/> Sinne eine hinter der Form tief in ſich zuſammengefaßte Innerlichkeit<lb/> nennen; die Seele ergießt ſich warm und liebevoll ohne Bruch in ihre<lb/> Form. Und dieſer Zug fehlt auch wieder auf florentiniſcher Seite einem<lb/> Taddeo Gaddi und Andern nicht.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 722.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Es folgt die Stufe des Uebergangs zur höchſten Blüthe, die durch einen<lb/> rührenden Reſt von Gebundenheit noch von der Entfaltung der freien Schönheit<lb/> zurückgehalten wird. Der Gegenſatz der Style bleibt, jede der beiden Rich-<lb/> tungen wächst und reift aber nicht nur an ſich, ſondern füllt ſich auch reichlicher<lb/> mit Inhalt und Form der entgegengeſetzten. Die <hi rendition="#g">florentiniſche</hi> Schule, die<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [707/0215]
Gewaltſames gibt. Maleriſch ſind aber auch die vielfach eingewobenen
genreartigen, oft humoriſtiſchen Motive. Dieſe finden in der reichen
Legende mit der Ironie des Naturgeſetzes, die in ihren Wundern liegt,
ſattſame Anknüpfung, denn die mythiſche Stoffwelt erweitert jetzt mehr
und mehr ihre Kreiſe. Ihre Erweiterung iſt zugleich ein Herausdrängen
nach der urſprünglichen Stoffwelt; dieß iſt die tiefere Bedeutung ſolcher
Einflechtungen, die ſich denn auch keineswegs auf einzelne Züge be-
ſchränken. Der Drang nach der Wirklichkeit ſetzt nicht nur die mythiſche
Handlung an ſich nach Kräften in lebendige Realität, ſondern zieht als
Zuſchauer oder in näherer Betheiligung bei Ceremonienſcenen Gruppen von
Figuren herbei, in welchen neben dem Sittenbilde bereits auch die Ge-
ſchichtsmalerei als ſchwacher Keim ſichtbar iſt. Wir haben dieſe wichtige
Erſcheinung von nun an im Auge zu behalten und wo ſie ſtärker auftritt,
ausdrücklich herauszuſtellen. Wenn nun ſo die plaſtiſche Richtung auch
das Maleriſche, und zwar in reichem Maaß, in ſich aufnimmt, ſo fehlt
umgekehrt der maleriſchen das Plaſtiſche nicht, denn die Sieneſen ziehen
ſich zwar jetzt meiſt auf die einfachen Gruppen zurück, worin das unend-
liche Leben der Liebe zu ſeiner ſtillen Innigkeit ſich ſammelt, nicht zur
bewegten Handlung ſich erſchließt, ſie bleiben in der Zeichnung zurück,
ohne die Farbe in reicherer Weiſe, als für den Zweck dieſes Ausdrucks,
zu verwenden; ſie bleiben gebunden von einem Reſte byzantiniſcher Hager-
keit, während die Florentiner die typiſche Feſſel allmählich ſprengen und
ihre Schranke nur da finden, wo ihr Können endet; allein in einem
Ambruogio di Lorenzo bricht der Geiſt Duccio’s wieder durch, ja er breitet
ſich wie die Giottiſten in handlungsreicher Freske aus und die allegoriſchen
Figuren, die jene Darſtellung des guten und ſchlechten Regiments im
Rathhauſe zu Siena zuſammenfaſſen, ſind von antiker Schönheit. Doch
auch die ſtille Seelen-Anmuth dieſer Sieneſen in den holden Madonnen-
köpfen mit den griechiſchen Naſen kann man nicht im engſten maleriſchen
Sinne eine hinter der Form tief in ſich zuſammengefaßte Innerlichkeit
nennen; die Seele ergießt ſich warm und liebevoll ohne Bruch in ihre
Form. Und dieſer Zug fehlt auch wieder auf florentiniſcher Seite einem
Taddeo Gaddi und Andern nicht.
§. 722.
Es folgt die Stufe des Uebergangs zur höchſten Blüthe, die durch einen
rührenden Reſt von Gebundenheit noch von der Entfaltung der freien Schönheit
zurückgehalten wird. Der Gegenſatz der Style bleibt, jede der beiden Rich-
tungen wächst und reift aber nicht nur an ſich, ſondern füllt ſich auch reichlicher
mit Inhalt und Form der entgegengeſetzten. Die florentiniſche Schule, die
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