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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Instinctive und Zuständliche herrscht, dem Stoffe nach in den sinnlicheren
Ständen, der aufgefaßten Seite nach, wo die äußern Culturformen in den
Vordergrund treten; dem Moment und Grade des Umfangs nach in der
harmlosen Situation einfacher Arbeit oder behaglicher Müßigkeit, im massen-
haft Gemeinschaftlichen, sei es ein Thun, ein Genuß, auch ein Kampf,
wenn nur die Lage nicht zu spannend erscheint, oder ein Leiden, sofern nur
der geistige Schmerz nicht zu subjectiv im Ausdruck vorwiegt. Das Lyrische
ist mehr, wiewohl natürlich keineswegs allein, in den feineren Ständen
zu Hause, weil es mit der innerlich vertiefteren Empfindung eintritt, in
der psychologischen Auffassung, in derjenigen Situation, welche die ver-
borgenen Saiten des Seelenlebens anschlägt, in der einzelnen Figur und
kleineren Gruppe. Das Dramatische liegt dem Sittenbilde darum ferner,
weil die tiefen Conflicte, die in straffer Erwartung spannen, indem sie
da hervorbrechen, wo Einigkeit sein sollte (vergl. Hotho a. a. O. S. 69.
70), sich gewöhnlich in die wirkliche Geschichte eingraben und weil ihre
Darstellung sich naturgemäß des weitschichtigen Anhangs von Cultur-
formen entledigt, die den Menschen mit ihrer Wucht, wo nicht die ent-
scheidende That aus dem heroisch freien Innern geschöpft wird, in das
Zuständliche ziehen. Doch sind auch hier die Bilder furchtbarer Spannung,
wie bei Raub, Mord, gefahrvollem Kampfe, zerreißendem Schrecken, der
tief im Gemüthe zündet, wie bei tragischem Familien-Unglück, beziehungs-
weise dramatisch zu nennen. Auch das scharf packende, in bewegter Hand-
lung hervorbrechende Komische gehört in diese Form.

3. Hiemit sind wir zu dem Unterschiede des einfach Schönen, Erha-
benen, Komischen gelangt. Es bleibt, da der Reichthum, womit die zwei
ersten Formen bis zum Tragischen nunmehr auf ihrem wahren Boden,
dem menschlichen, sich entwickeln, im Wesentlichen nur noch zu sagen, wie
jetzt zum erstenmal in der Kunst das Komische in voller, selbständiger
Kraft bis zur Nähe des deutlichen Gegensatzes eintritt, der in der Dicht-
kunst zwischen Tragödie und Komödie besteht. Leicht unterscheidet sich
eine dreifache Form: die Posse mit ihrem Cynismus in der groben Seite
des patriarchalischen Gebiets, theils als ruhige Darstellung der bäurischen
Natur in ihrem harmlos schwerfälligen Selbstgenuß, theils als Bild aus-
gelassener Tollheit in Gelagen, Tanz, Prügelei, die gemäßigtere, doch noch
starke Ironie in der Charakteristik jener mittleren Schichten, wo die Arbeit
sich von der Natur entfernt (Schneider, Schuster, Krämer, Schulmeister
u. dgl.), endlich die feine Ironie und der Humor in der Belauschung der
verborgenen Gemüthlichkeiten, Intriguen, innern Widersprüche im Leben
der gebildeten Stände.


Inſtinctive und Zuſtändliche herrſcht, dem Stoffe nach in den ſinnlicheren
Ständen, der aufgefaßten Seite nach, wo die äußern Culturformen in den
Vordergrund treten; dem Moment und Grade des Umfangs nach in der
harmloſen Situation einfacher Arbeit oder behaglicher Müßigkeit, im maſſen-
haft Gemeinſchaftlichen, ſei es ein Thun, ein Genuß, auch ein Kampf,
wenn nur die Lage nicht zu ſpannend erſcheint, oder ein Leiden, ſofern nur
der geiſtige Schmerz nicht zu ſubjectiv im Ausdruck vorwiegt. Das Lyriſche
iſt mehr, wiewohl natürlich keineswegs allein, in den feineren Ständen
zu Hauſe, weil es mit der innerlich vertiefteren Empfindung eintritt, in
der pſychologiſchen Auffaſſung, in derjenigen Situation, welche die ver-
borgenen Saiten des Seelenlebens anſchlägt, in der einzelnen Figur und
kleineren Gruppe. Das Dramatiſche liegt dem Sittenbilde darum ferner,
weil die tiefen Conflicte, die in ſtraffer Erwartung ſpannen, indem ſie
da hervorbrechen, wo Einigkeit ſein ſollte (vergl. Hotho a. a. O. S. 69.
70), ſich gewöhnlich in die wirkliche Geſchichte eingraben und weil ihre
Darſtellung ſich naturgemäß des weitſchichtigen Anhangs von Cultur-
formen entledigt, die den Menſchen mit ihrer Wucht, wo nicht die ent-
ſcheidende That aus dem heroiſch freien Innern geſchöpft wird, in das
Zuſtändliche ziehen. Doch ſind auch hier die Bilder furchtbarer Spannung,
wie bei Raub, Mord, gefahrvollem Kampfe, zerreißendem Schrecken, der
tief im Gemüthe zündet, wie bei tragiſchem Familien-Unglück, beziehungs-
weiſe dramatiſch zu nennen. Auch das ſcharf packende, in bewegter Hand-
lung hervorbrechende Komiſche gehört in dieſe Form.

3. Hiemit ſind wir zu dem Unterſchiede des einfach Schönen, Erha-
benen, Komiſchen gelangt. Es bleibt, da der Reichthum, womit die zwei
erſten Formen bis zum Tragiſchen nunmehr auf ihrem wahren Boden,
dem menſchlichen, ſich entwickeln, im Weſentlichen nur noch zu ſagen, wie
jetzt zum erſtenmal in der Kunſt das Komiſche in voller, ſelbſtändiger
Kraft bis zur Nähe des deutlichen Gegenſatzes eintritt, der in der Dicht-
kunſt zwiſchen Tragödie und Komödie beſteht. Leicht unterſcheidet ſich
eine dreifache Form: die Poſſe mit ihrem Cyniſmus in der groben Seite
des patriarchaliſchen Gebiets, theils als ruhige Darſtellung der bäuriſchen
Natur in ihrem harmlos ſchwerfälligen Selbſtgenuß, theils als Bild aus-
gelaſſener Tollheit in Gelagen, Tanz, Prügelei, die gemäßigtere, doch noch
ſtarke Ironie in der Charakteriſtik jener mittleren Schichten, wo die Arbeit
ſich von der Natur entfernt (Schneider, Schuſter, Krämer, Schulmeiſter
u. dgl.), endlich die feine Ironie und der Humor in der Belauſchung der
verborgenen Gemüthlichkeiten, Intriguen, innern Widerſprüche im Leben
der gebildeten Stände.


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[671/0179] Inſtinctive und Zuſtändliche herrſcht, dem Stoffe nach in den ſinnlicheren Ständen, der aufgefaßten Seite nach, wo die äußern Culturformen in den Vordergrund treten; dem Moment und Grade des Umfangs nach in der harmloſen Situation einfacher Arbeit oder behaglicher Müßigkeit, im maſſen- haft Gemeinſchaftlichen, ſei es ein Thun, ein Genuß, auch ein Kampf, wenn nur die Lage nicht zu ſpannend erſcheint, oder ein Leiden, ſofern nur der geiſtige Schmerz nicht zu ſubjectiv im Ausdruck vorwiegt. Das Lyriſche iſt mehr, wiewohl natürlich keineswegs allein, in den feineren Ständen zu Hauſe, weil es mit der innerlich vertiefteren Empfindung eintritt, in der pſychologiſchen Auffaſſung, in derjenigen Situation, welche die ver- borgenen Saiten des Seelenlebens anſchlägt, in der einzelnen Figur und kleineren Gruppe. Das Dramatiſche liegt dem Sittenbilde darum ferner, weil die tiefen Conflicte, die in ſtraffer Erwartung ſpannen, indem ſie da hervorbrechen, wo Einigkeit ſein ſollte (vergl. Hotho a. a. O. S. 69. 70), ſich gewöhnlich in die wirkliche Geſchichte eingraben und weil ihre Darſtellung ſich naturgemäß des weitſchichtigen Anhangs von Cultur- formen entledigt, die den Menſchen mit ihrer Wucht, wo nicht die ent- ſcheidende That aus dem heroiſch freien Innern geſchöpft wird, in das Zuſtändliche ziehen. Doch ſind auch hier die Bilder furchtbarer Spannung, wie bei Raub, Mord, gefahrvollem Kampfe, zerreißendem Schrecken, der tief im Gemüthe zündet, wie bei tragiſchem Familien-Unglück, beziehungs- weiſe dramatiſch zu nennen. Auch das ſcharf packende, in bewegter Hand- lung hervorbrechende Komiſche gehört in dieſe Form. 3. Hiemit ſind wir zu dem Unterſchiede des einfach Schönen, Erha- benen, Komiſchen gelangt. Es bleibt, da der Reichthum, womit die zwei erſten Formen bis zum Tragiſchen nunmehr auf ihrem wahren Boden, dem menſchlichen, ſich entwickeln, im Weſentlichen nur noch zu ſagen, wie jetzt zum erſtenmal in der Kunſt das Komiſche in voller, ſelbſtändiger Kraft bis zur Nähe des deutlichen Gegenſatzes eintritt, der in der Dicht- kunſt zwiſchen Tragödie und Komödie beſteht. Leicht unterſcheidet ſich eine dreifache Form: die Poſſe mit ihrem Cyniſmus in der groben Seite des patriarchaliſchen Gebiets, theils als ruhige Darſtellung der bäuriſchen Natur in ihrem harmlos ſchwerfälligen Selbſtgenuß, theils als Bild aus- gelaſſener Tollheit in Gelagen, Tanz, Prügelei, die gemäßigtere, doch noch ſtarke Ironie in der Charakteriſtik jener mittleren Schichten, wo die Arbeit ſich von der Natur entfernt (Schneider, Schuſter, Krämer, Schulmeiſter u. dgl.), endlich die feine Ironie und der Humor in der Belauſchung der verborgenen Gemüthlichkeiten, Intriguen, innern Widerſprüche im Leben der gebildeten Stände.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 671. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/179>, abgerufen am 24.11.2024.