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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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deutend mit Wesentlich, Groß, Substantiell und so verstanden wiegt es
im historischen Bilde vor, wogegen es im Sittenbilde nur "Grundlage",
nur "die verdeckte Wurzel" bleibt, welche das Particuläre, das frei spie-
lende Individuelle in die Tiefe senkt. Hier wird die Sache deutlich: das
Allgemeine, d. h. die gattungsmäßigen Kräfte der Menschheit, wenn sie
sich zu geschichtlichen Entscheidungen concentriren, worin eine bestimmte
Idee durchbricht, herrscht im historischen Bilde und da wird das Einzelne
(im Sinn des Particulären) zurückgedrängt, strenge gebunden; was Hotho
Grundlage, verdeckte Wurzel nennt, ist dagegen das Allgemeine, das sich
zu solchen Entscheidungen nicht concentrirt, so verstanden, aber herrscht
es im Sittenbilde, denn nun ist es gleichbedeutend mit dem Täglichen,
Continuirlichen, Gewöhnlichen, welches den Menschen frei läßt, so daß
alle Züge des Besondern und Einzelnen ungebunden spielen und sich aus-
breiten dürfen. Es walten also in beiden Zweigen dieselben gattungs-
mäßigen Kräfte der Menschheit, dort zur Entscheidung gesammelt, hier
nicht. Es ist dieß aber keineswegs ein Unterschied, der nur in der Con-
ception, in der Auffassung liegt, außer sofern natürlich auch die Wahl
des Gegenstands selbst ursprünglich eben ein Act derselben ist; der Gegen-
stand selbst ist verschieden; freilich jedesmal dasselbe Wesen, der Mensch,
aber jedesmal eine andere Hemisphäre seines Daseins. Der Inhalt wird
in Wirklichkeit ein anderer, wenn er aus der unbelauschten Richthöhe des
Gewöhnlichen herauftaucht an den Tag der Geschichte. Der Sitten-Maler
zeigt uns irgend ein buhlerisches Weib, der Geschichts-Maler eine Cleopatra,
jener einen namenlosen Krieger, Staatsmann, dieser einen Alexander den
Gr., einen Perikles, Cromwell, jener einen Unbekannten mit dem Ausdruck
religiöser Begeisterung, dieser einen Huß, einen Luther: es ist beidemal
dasselbe Pathos, aber dasselbe Pathos wird ein anderes, wenn es die
Geschicke concreter Staaten, ganzer Epochen bewegt oder diese sich doch
irgendwie mit ihm verwickeln, als wenn es sich in der Dunkelheit des
Namenlosen verborgen weiß; die Seele wird tiefer, umfassender aufge-
rüttelt und die äußere Erscheinung im Bewußtsein des erschütternden, in
die Annalen der Geschichte sich eingrabenden Moments größer, mächtiger,
sie wird monumental. Das Sittenbild hat keineswegs blos sogenannten
niedrigen Inhalt, alles Bedeutende, was die Geschichte bewegt, ist in ihm
auch da, jede höchste Empfindung, jedes tiefste Leiden kann neben dem
geringsten und anspruchlosesten Thun zur Darstellung kommen, und doch
ist es eine andere Welt, doch fehlt ein letzter Punct auf das i, ein Hauptton,
der Grundbaß. Mag nun der Mensch auch von Bedeutendem ergriffen
sein, so läßt er sich doch, sofern dieses Bedeutende nicht zur Spitze ge-
schichtlicher Entscheidung gelangt, sofern er sich vom Auge der Geschichte
nicht beobachtet weiß, gehen und gibt sich nachläßiger allen den Bedin-

deutend mit Weſentlich, Groß, Subſtantiell und ſo verſtanden wiegt es
im hiſtoriſchen Bilde vor, wogegen es im Sittenbilde nur „Grundlage“,
nur „die verdeckte Wurzel“ bleibt, welche das Particuläre, das frei ſpie-
lende Individuelle in die Tiefe ſenkt. Hier wird die Sache deutlich: das
Allgemeine, d. h. die gattungsmäßigen Kräfte der Menſchheit, wenn ſie
ſich zu geſchichtlichen Entſcheidungen concentriren, worin eine beſtimmte
Idee durchbricht, herrſcht im hiſtoriſchen Bilde und da wird das Einzelne
(im Sinn des Particulären) zurückgedrängt, ſtrenge gebunden; was Hotho
Grundlage, verdeckte Wurzel nennt, iſt dagegen das Allgemeine, das ſich
zu ſolchen Entſcheidungen nicht concentrirt, ſo verſtanden, aber herrſcht
es im Sittenbilde, denn nun iſt es gleichbedeutend mit dem Täglichen,
Continuirlichen, Gewöhnlichen, welches den Menſchen frei läßt, ſo daß
alle Züge des Beſondern und Einzelnen ungebunden ſpielen und ſich aus-
breiten dürfen. Es walten alſo in beiden Zweigen dieſelben gattungs-
mäßigen Kräfte der Menſchheit, dort zur Entſcheidung geſammelt, hier
nicht. Es iſt dieß aber keineswegs ein Unterſchied, der nur in der Con-
ception, in der Auffaſſung liegt, außer ſofern natürlich auch die Wahl
des Gegenſtands ſelbſt urſprünglich eben ein Act derſelben iſt; der Gegen-
ſtand ſelbſt iſt verſchieden; freilich jedesmal daſſelbe Weſen, der Menſch,
aber jedesmal eine andere Hemiſphäre ſeines Daſeins. Der Inhalt wird
in Wirklichkeit ein anderer, wenn er aus der unbelauſchten Richthöhe des
Gewöhnlichen herauftaucht an den Tag der Geſchichte. Der Sitten-Maler
zeigt uns irgend ein buhleriſches Weib, der Geſchichts-Maler eine Cleopatra,
jener einen namenloſen Krieger, Staatsmann, dieſer einen Alexander den
Gr., einen Perikles, Cromwell, jener einen Unbekannten mit dem Ausdruck
religiöſer Begeiſterung, dieſer einen Huß, einen Luther: es iſt beidemal
daſſelbe Pathos, aber daſſelbe Pathos wird ein anderes, wenn es die
Geſchicke concreter Staaten, ganzer Epochen bewegt oder dieſe ſich doch
irgendwie mit ihm verwickeln, als wenn es ſich in der Dunkelheit des
Namenloſen verborgen weiß; die Seele wird tiefer, umfaſſender aufge-
rüttelt und die äußere Erſcheinung im Bewußtſein des erſchütternden, in
die Annalen der Geſchichte ſich eingrabenden Moments größer, mächtiger,
ſie wird monumental. Das Sittenbild hat keineswegs blos ſogenannten
niedrigen Inhalt, alles Bedeutende, was die Geſchichte bewegt, iſt in ihm
auch da, jede höchſte Empfindung, jedes tiefſte Leiden kann neben dem
geringſten und anſpruchloſeſten Thun zur Darſtellung kommen, und doch
iſt es eine andere Welt, doch fehlt ein letzter Punct auf das i, ein Hauptton,
der Grundbaß. Mag nun der Menſch auch von Bedeutendem ergriffen
ſein, ſo läßt er ſich doch, ſofern dieſes Bedeutende nicht zur Spitze ge-
ſchichtlicher Entſcheidung gelangt, ſofern er ſich vom Auge der Geſchichte
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[663/0171] deutend mit Weſentlich, Groß, Subſtantiell und ſo verſtanden wiegt es im hiſtoriſchen Bilde vor, wogegen es im Sittenbilde nur „Grundlage“, nur „die verdeckte Wurzel“ bleibt, welche das Particuläre, das frei ſpie- lende Individuelle in die Tiefe ſenkt. Hier wird die Sache deutlich: das Allgemeine, d. h. die gattungsmäßigen Kräfte der Menſchheit, wenn ſie ſich zu geſchichtlichen Entſcheidungen concentriren, worin eine beſtimmte Idee durchbricht, herrſcht im hiſtoriſchen Bilde und da wird das Einzelne (im Sinn des Particulären) zurückgedrängt, ſtrenge gebunden; was Hotho Grundlage, verdeckte Wurzel nennt, iſt dagegen das Allgemeine, das ſich zu ſolchen Entſcheidungen nicht concentrirt, ſo verſtanden, aber herrſcht es im Sittenbilde, denn nun iſt es gleichbedeutend mit dem Täglichen, Continuirlichen, Gewöhnlichen, welches den Menſchen frei läßt, ſo daß alle Züge des Beſondern und Einzelnen ungebunden ſpielen und ſich aus- breiten dürfen. Es walten alſo in beiden Zweigen dieſelben gattungs- mäßigen Kräfte der Menſchheit, dort zur Entſcheidung geſammelt, hier nicht. Es iſt dieß aber keineswegs ein Unterſchied, der nur in der Con- ception, in der Auffaſſung liegt, außer ſofern natürlich auch die Wahl des Gegenſtands ſelbſt urſprünglich eben ein Act derſelben iſt; der Gegen- ſtand ſelbſt iſt verſchieden; freilich jedesmal daſſelbe Weſen, der Menſch, aber jedesmal eine andere Hemiſphäre ſeines Daſeins. Der Inhalt wird in Wirklichkeit ein anderer, wenn er aus der unbelauſchten Richthöhe des Gewöhnlichen herauftaucht an den Tag der Geſchichte. Der Sitten-Maler zeigt uns irgend ein buhleriſches Weib, der Geſchichts-Maler eine Cleopatra, jener einen namenloſen Krieger, Staatsmann, dieſer einen Alexander den Gr., einen Perikles, Cromwell, jener einen Unbekannten mit dem Ausdruck religiöſer Begeiſterung, dieſer einen Huß, einen Luther: es iſt beidemal daſſelbe Pathos, aber daſſelbe Pathos wird ein anderes, wenn es die Geſchicke concreter Staaten, ganzer Epochen bewegt oder dieſe ſich doch irgendwie mit ihm verwickeln, als wenn es ſich in der Dunkelheit des Namenloſen verborgen weiß; die Seele wird tiefer, umfaſſender aufge- rüttelt und die äußere Erſcheinung im Bewußtſein des erſchütternden, in die Annalen der Geſchichte ſich eingrabenden Moments größer, mächtiger, ſie wird monumental. Das Sittenbild hat keineswegs blos ſogenannten niedrigen Inhalt, alles Bedeutende, was die Geſchichte bewegt, iſt in ihm auch da, jede höchſte Empfindung, jedes tiefſte Leiden kann neben dem geringſten und anſpruchloſeſten Thun zur Darſtellung kommen, und doch iſt es eine andere Welt, doch fehlt ein letzter Punct auf das i, ein Hauptton, der Grundbaß. Mag nun der Menſch auch von Bedeutendem ergriffen ſein, ſo läßt er ſich doch, ſofern dieſes Bedeutende nicht zur Spitze ge- ſchichtlicher Entſcheidung gelangt, ſofern er ſich vom Auge der Geſchichte nicht beobachtet weiß, gehen und gibt ſich nachläßiger allen den Bedin-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/171>, abgerufen am 27.11.2024.