Allgemeinen" beschränkt und gebunden. Ein solcher kann sich in der Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur. Wohl zeigt sich auf dem Standpuncte der mythischen Anschauung auch bei ihr ein Ansatz zu einem Gestaltenkreise stehender Typen, für deren Behandlung plastische Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein wie wenige sind deren gewesen: Christus, Paulus, Petrus, etwa noch Johannes, das ist im Grund Alles; und wie bald dringt auch in diese wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verschiedenheit der Auffassung ein, bis sie endlich den transcendenten Gestalten-Auszug sprengt und in die ungemessene Vielheit der geschichtlichen Charakterwelt auflöst! Es geht dann die rein malerische und die mehr plastische Stylrichtung auseinander. Wir haben gesehen, daß auch die letztere zwar ein spar- sameres Maaß des Besonderen und Individuellen, als die erstere, aber doch ein volleres, als die Bildnerkunst, ihren Gestalten zuwiegt; nun, da von der diese Züge beherrschenden Willens-Einheit die Rede ist, haben wir den Unterschied der zwei Style nach dieser Seite noch einmal in's Auge zu fassen. Wie die mehr bildnerische Richtung die empirischen Formen strenger reduzirt, so wird sie auch die sie beherrschende Kraft, den inneren ethischen Kernpunct einfacher auffassen. Das negativ Pathetische liegt ihr ferner, der ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein starker Wille als stetige positive Wärme die ganze persönliche Erscheinung ausfüllt, ist ihr Gebiet, der großartige Ernst einer einfachen männlichen Würde eine ihrer mächtigsten Wirkungen. Die ernsten Männergestalten der großen italieni- schen Meister, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir schon in anderem Zusammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge- wissem Sinne plastische Naturen genannt. Und doch wie tief ist dieser Unterschied, wenn man insbesondere bedenkt, daß diese würdevolle Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets geschöpft in's Unendliche fortsetzbar ist, während dort der Kreis geschlossen war! Vom streng malerischen Styl dagegen unterscheidet sich dieser mehr plastische nothwendig durch eine sehr bestimmte Grenze, wenn man den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt. Dann kann er ebensogut, als die Herrschaft des Willens über das Na- türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerstreute Entfesslung des letzteren, also ein blos Charakteristisches, das sich statt des Charakters ausgebildet hat, er kann sogar völlige Charakterlosigkeit bezeichnen. Wir haben auch diesen Stoff von der Sculptur abgewehrt (§. 625 Anm. 2); der plastische Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls ab, der entgegengesetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geschwätzige, der Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;
Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur. Wohl zeigt ſich auf dem Standpuncte der mythiſchen Anſchauung auch bei ihr ein Anſatz zu einem Geſtaltenkreiſe ſtehender Typen, für deren Behandlung plaſtiſche Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein wie wenige ſind deren geweſen: Chriſtus, Paulus, Petrus, etwa noch Johannes, das iſt im Grund Alles; und wie bald dringt auch in dieſe wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verſchiedenheit der Auffaſſung ein, bis ſie endlich den transcendenten Geſtalten-Auszug ſprengt und in die ungemeſſene Vielheit der geſchichtlichen Charakterwelt auflöst! Es geht dann die rein maleriſche und die mehr plaſtiſche Stylrichtung auseinander. Wir haben geſehen, daß auch die letztere zwar ein ſpar- ſameres Maaß des Beſonderen und Individuellen, als die erſtere, aber doch ein volleres, als die Bildnerkunſt, ihren Geſtalten zuwiegt; nun, da von der dieſe Züge beherrſchenden Willens-Einheit die Rede iſt, haben wir den Unterſchied der zwei Style nach dieſer Seite noch einmal in’s Auge zu faſſen. Wie die mehr bildneriſche Richtung die empiriſchen Formen ſtrenger reduzirt, ſo wird ſie auch die ſie beherrſchende Kraft, den inneren ethiſchen Kernpunct einfacher auffaſſen. Das negativ Pathetiſche liegt ihr ferner, der ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein ſtarker Wille als ſtetige poſitive Wärme die ganze perſönliche Erſcheinung ausfüllt, iſt ihr Gebiet, der großartige Ernſt einer einfachen männlichen Würde eine ihrer mächtigſten Wirkungen. Die ernſten Männergeſtalten der großen italieni- ſchen Meiſter, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir ſchon in anderem Zuſammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge- wiſſem Sinne plaſtiſche Naturen genannt. Und doch wie tief iſt dieſer Unterſchied, wenn man insbeſondere bedenkt, daß dieſe würdevolle Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets geſchöpft in’s Unendliche fortſetzbar iſt, während dort der Kreis geſchloſſen war! Vom ſtreng maleriſchen Styl dagegen unterſcheidet ſich dieſer mehr plaſtiſche nothwendig durch eine ſehr beſtimmte Grenze, wenn man den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt. Dann kann er ebenſogut, als die Herrſchaft des Willens über das Na- türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerſtreute Entfeſſlung des letzteren, alſo ein blos Charakteriſtiſches, das ſich ſtatt des Charakters ausgebildet hat, er kann ſogar völlige Charakterloſigkeit bezeichnen. Wir haben auch dieſen Stoff von der Sculptur abgewehrt (§. 625 Anm. 2); der plaſtiſche Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls ab, der entgegengeſetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geſchwätzige, der Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;
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[608/0116]
Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der
Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur.
Wohl zeigt ſich auf dem Standpuncte der mythiſchen Anſchauung auch
bei ihr ein Anſatz zu einem Geſtaltenkreiſe ſtehender Typen, für deren
Behandlung plaſtiſche Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein
wie wenige ſind deren geweſen: Chriſtus, Paulus, Petrus, etwa noch
Johannes, das iſt im Grund Alles; und wie bald dringt auch in dieſe
wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verſchiedenheit der
Auffaſſung ein, bis ſie endlich den transcendenten Geſtalten-Auszug ſprengt
und in die ungemeſſene Vielheit der geſchichtlichen Charakterwelt auflöst!
Es geht dann die rein maleriſche und die mehr plaſtiſche Stylrichtung
auseinander. Wir haben geſehen, daß auch die letztere zwar ein ſpar-
ſameres Maaß des Beſonderen und Individuellen, als die erſtere, aber
doch ein volleres, als die Bildnerkunſt, ihren Geſtalten zuwiegt; nun, da
von der dieſe Züge beherrſchenden Willens-Einheit die Rede iſt, haben wir
den Unterſchied der zwei Style nach dieſer Seite noch einmal in’s Auge
zu faſſen. Wie die mehr bildneriſche Richtung die empiriſchen Formen ſtrenger
reduzirt, ſo wird ſie auch die ſie beherrſchende Kraft, den inneren ethiſchen
Kernpunct einfacher auffaſſen. Das negativ Pathetiſche liegt ihr ferner, der
ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein ſtarker Wille
als ſtetige poſitive Wärme die ganze perſönliche Erſcheinung ausfüllt, iſt ihr
Gebiet, der großartige Ernſt einer einfachen männlichen Würde eine ihrer
mächtigſten Wirkungen. Die ernſten Männergeſtalten der großen italieni-
ſchen Meiſter, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines
Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir ſchon in
anderem Zuſammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge-
wiſſem Sinne plaſtiſche Naturen genannt. Und doch wie tief iſt dieſer
Unterſchied, wenn man insbeſondere bedenkt, daß dieſe würdevolle
Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets
geſchöpft in’s Unendliche fortſetzbar iſt, während dort der Kreis geſchloſſen
war! Vom ſtreng maleriſchen Styl dagegen unterſcheidet ſich dieſer
mehr plaſtiſche nothwendig durch eine ſehr beſtimmte Grenze, wenn man
den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt.
Dann kann er ebenſogut, als die Herrſchaft des Willens über das Na-
türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerſtreute
Entfeſſlung des letzteren, alſo ein blos Charakteriſtiſches, das ſich ſtatt
des Charakters ausgebildet hat, er kann ſogar völlige Charakterloſigkeit
bezeichnen. Wir haben auch dieſen Stoff von der Sculptur abgewehrt
(§. 625 Anm. 2); der plaſtiſche Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls
ab, der entgegengeſetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geſchwätzige, der
Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 608. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/116>, abgerufen am 16.02.2025.
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