Bildung, Erhaltung und Auflösung; die Homerischen Götter sind "blut- los". Nur in Momenten der stärksten Anstrengung ist das Hervortreten dieses Apparats gerechtfertigt: so hat der farnesische Herkules, der eben vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torso, der den verklärt ruhenden Halbgott darstellt, sind keine sichtbar. Außerdem mag die Dar- stellung sehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher Persönlichkeit die bestimmtere Andeutung dieser ausprägenden, markirenden Lebensäste mit sich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil- dung verändert sich die Sache; jenes fordert an sich stärkere Ausladung auch dieser Einzelform, das gröbere Thierleben aber ist vorherrschend eine Erscheinung der Kraft und die Röhren seines Lebensstroms wie die Hebel seiner massigen Glieder müssen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden. -- Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern, Gelenke, Lineamente der Hand, so wie die Unterschiede ihrer Form über- haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild- ner kann sich aber auf die Charakterformen dieses Gebildes schon darum nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Physiognomiker sie beobachtet, weil in seiner Kunst die sämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters mit einem Gewichte mitsprechen, der den vorzugsweise sprechenden Theilen ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht so vorherrschend auf sie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern System der Sitte, Bildungsform, Auffassung und Kunstform der Fall ist. Es wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird schöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entschieden vor- herrschen. -- Was Individualismus und Naturalismus heißt, ist nun schon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier erwähnten Formen weiter, als die strenge Richtung auf idealen Styl. -- Wir schließen diese Bestimmungen über die Behandlung des Körpers mit den Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S. 260): "Ueber die Menschheit erhaben ist sein Gewächs und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem glücklichen Elysium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stol- zen Gebäude seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich un- körperlicher Schönheiten und versuche, ein Schöpfer himmlischer Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die- sen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet."
Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut- los“. Nur in Momenten der ſtärkſten Anſtrengung iſt das Hervortreten dieſes Apparats gerechtfertigt: ſo hat der farneſiſche Herkules, der eben vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torſo, der den verklärt ruhenden Halbgott darſtellt, ſind keine ſichtbar. Außerdem mag die Dar- ſtellung ſehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher Perſönlichkeit die beſtimmtere Andeutung dieſer ausprägenden, markirenden Lebensäſte mit ſich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil- dung verändert ſich die Sache; jenes fordert an ſich ſtärkere Ausladung auch dieſer Einzelform, das gröbere Thierleben aber iſt vorherrſchend eine Erſcheinung der Kraft und die Röhren ſeines Lebensſtroms wie die Hebel ſeiner maſſigen Glieder müſſen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden. — Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern, Gelenke, Lineamente der Hand, ſo wie die Unterſchiede ihrer Form über- haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild- ner kann ſich aber auf die Charakterformen dieſes Gebildes ſchon darum nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Phyſiognomiker ſie beobachtet, weil in ſeiner Kunſt die ſämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters mit einem Gewichte mitſprechen, der den vorzugsweiſe ſprechenden Theilen ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht ſo vorherrſchend auf ſie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern Syſtem der Sitte, Bildungsform, Auffaſſung und Kunſtform der Fall iſt. Es wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird ſchöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entſchieden vor- herrſchen. — Was Individualiſmus und Naturaliſmus heißt, iſt nun ſchon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier erwähnten Formen weiter, als die ſtrenge Richtung auf idealen Styl. — Wir ſchließen dieſe Beſtimmungen über die Behandlung des Körpers mit den Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S. 260): „Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs und ſein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem glücklichen Elyſium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und ſpielt mit ſanften Zärtlichkeiten auf dem ſtol- zen Gebäude ſeiner Glieder. Gehe mit deinem Geiſte in das Reich un- körperlicher Schönheiten und verſuche, ein Schöpfer himmliſcher Natur zu werden, um den Geiſt mit Schönheiten, die ſich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die- ſen Körper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfüllet.“
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Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut-
los“. Nur in Momenten der ſtärkſten Anſtrengung iſt das Hervortreten
dieſes Apparats gerechtfertigt: ſo hat der farneſiſche Herkules, der eben
vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torſo, der den verklärt
ruhenden Halbgott darſtellt, ſind keine ſichtbar. Außerdem mag die Dar-
ſtellung ſehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher
Perſönlichkeit die beſtimmtere Andeutung dieſer ausprägenden, markirenden
Lebensäſte mit ſich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil-
dung verändert ſich die Sache; jenes fordert an ſich ſtärkere Ausladung
auch dieſer Einzelform, das gröbere Thierleben aber iſt vorherrſchend eine
Erſcheinung der Kraft und die Röhren ſeines Lebensſtroms wie die Hebel
ſeiner maſſigen Glieder müſſen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden.
— Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern,
Gelenke, Lineamente der Hand, ſo wie die Unterſchiede ihrer Form über-
haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild-
ner kann ſich aber auf die Charakterformen dieſes Gebildes ſchon darum
nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Phyſiognomiker ſie beobachtet,
weil in ſeiner Kunſt die ſämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters
mit einem Gewichte mitſprechen, der den vorzugsweiſe ſprechenden Theilen
ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht
ſo vorherrſchend auf ſie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern Syſtem
der Sitte, Bildungsform, Auffaſſung und Kunſtform der Fall iſt. Es
wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden
angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird
ſchöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entſchieden vor-
herrſchen. — Was Individualiſmus und Naturaliſmus heißt, iſt nun
ſchon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier
erwähnten Formen weiter, als die ſtrenge Richtung auf idealen Styl. —
Wir ſchließen dieſe Beſtimmungen über die Behandlung des Körpers mit den
Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S.
260): „Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs und ſein Stand
zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem
glücklichen Elyſium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre
mit gefälliger Jugend und ſpielt mit ſanften Zärtlichkeiten auf dem ſtol-
zen Gebäude ſeiner Glieder. Gehe mit deinem Geiſte in das Reich un-
körperlicher Schönheiten und verſuche, ein Schöpfer himmliſcher Natur zu
werden, um den Geiſt mit Schönheiten, die ſich über die Natur erheben,
zu erfüllen: denn hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche
Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die-
ſen Körper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom
ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfüllet.“
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/92>, abgerufen am 07.07.2024.
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