Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
Bildung, Erhaltung und Auflösung; die Homerischen Götter sind "blut-
Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0092" n="418"/> Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut-<lb/> los“. Nur in Momenten der ſtärkſten Anſtrengung iſt das Hervortreten<lb/> dieſes Apparats gerechtfertigt: ſo hat der farneſiſche Herkules, der eben<lb/> vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torſo, der den verklärt<lb/> ruhenden Halbgott darſtellt, ſind keine ſichtbar. Außerdem mag die Dar-<lb/> ſtellung ſehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher<lb/> Perſönlichkeit die beſtimmtere Andeutung dieſer ausprägenden, markirenden<lb/> Lebensäſte mit ſich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil-<lb/> dung verändert ſich die Sache; jenes fordert an ſich ſtärkere Ausladung<lb/> auch dieſer Einzelform, das gröbere Thierleben aber iſt vorherrſchend eine<lb/> Erſcheinung der Kraft und die Röhren ſeines Lebensſtroms wie die Hebel<lb/> ſeiner maſſigen Glieder müſſen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden.<lb/> — Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern,<lb/> Gelenke, Lineamente der <hi rendition="#g">Hand</hi>, ſo wie die Unterſchiede ihrer Form über-<lb/> haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild-<lb/> ner kann ſich aber auf die Charakterformen dieſes Gebildes ſchon darum<lb/> nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Phyſiognomiker ſie beobachtet,<lb/> weil in ſeiner Kunſt die ſämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters<lb/> mit einem Gewichte mitſprechen, der den vorzugsweiſe ſprechenden Theilen<lb/> ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht<lb/> ſo vorherrſchend auf ſie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern Syſtem<lb/> der Sitte, Bildungsform, Auffaſſung und Kunſtform der Fall iſt. Es<lb/> wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden<lb/> angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird<lb/> ſchöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entſchieden vor-<lb/> herrſchen. — Was Individualiſmus und Naturaliſmus heißt, iſt nun<lb/> ſchon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier<lb/> erwähnten Formen weiter, als die ſtrenge Richtung auf idealen Styl. —<lb/> Wir ſchließen dieſe Beſtimmungen über die Behandlung des Körpers mit den<lb/> Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S.<lb/> 260): „Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs und ſein Stand<lb/> zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem<lb/> glücklichen Elyſium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre<lb/> mit gefälliger Jugend und ſpielt mit ſanften Zärtlichkeiten auf dem ſtol-<lb/> zen Gebäude ſeiner Glieder. Gehe mit deinem Geiſte in das Reich un-<lb/> körperlicher Schönheiten und verſuche, ein Schöpfer himmliſcher Natur zu<lb/> werden, um den Geiſt mit Schönheiten, die ſich über die Natur erheben,<lb/> zu erfüllen: denn hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche<lb/> Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die-<lb/> ſen Körper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom<lb/> ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfüllet.“</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [418/0092]
Bildung, Erhaltung und Auflöſung; die Homeriſchen Götter ſind „blut-
los“. Nur in Momenten der ſtärkſten Anſtrengung iſt das Hervortreten
dieſes Apparats gerechtfertigt: ſo hat der farneſiſche Herkules, der eben
vom Kampfe kommt, aufgequollene Adern, am Torſo, der den verklärt
ruhenden Halbgott darſtellt, ſind keine ſichtbar. Außerdem mag die Dar-
ſtellung ſehr reifer, von Erfahrung gehärteter, durchgearbeiteter, männlicher
Perſönlichkeit die beſtimmtere Andeutung dieſer ausprägenden, markirenden
Lebensäſte mit ſich bringen. Im Materiale des Erzes und bei Thierbil-
dung verändert ſich die Sache; jenes fordert an ſich ſtärkere Ausladung
auch dieſer Einzelform, das gröbere Thierleben aber iſt vorherrſchend eine
Erſcheinung der Kraft und die Röhren ſeines Lebensſtroms wie die Hebel
ſeiner maſſigen Glieder müſſen daher ausdrücklicher hervorgehoben werden.
— Etwas Sprechendes, Charakterbezeichnendes haben die Sehnen, Adern,
Gelenke, Lineamente der Hand, ſo wie die Unterſchiede ihrer Form über-
haupt und namentlich der Fingerbildung (vergl. zu §. 338). Der Bild-
ner kann ſich aber auf die Charakterformen dieſes Gebildes ſchon darum
nicht mit dem Nachdrucke legen, womit der Phyſiognomiker ſie beobachtet,
weil in ſeiner Kunſt die ſämmtlichen Glieder zum Ausdruck des Charakters
mit einem Gewichte mitſprechen, der den vorzugsweiſe ſprechenden Theilen
ihre Bedeutung zwar natürlich nicht entzieht, aber doch das Auge nicht
ſo vorherrſchend auf ſie hinlenkt, wie dieß in einem ganz andern Syſtem
der Sitte, Bildungsform, Auffaſſung und Kunſtform der Fall iſt. Es
wird nicht an Modificationen der Hand fehlen, auch ihre Adern werden
angedeutet werden bei den härteren Charakteren, im Ganzen aber wird
ſchöne, rundliche Bildung über Angabe der Einzelformen entſchieden vor-
herrſchen. — Was Individualiſmus und Naturaliſmus heißt, iſt nun
ſchon um einen Schritt deutlicher: beide Richtungen gehen in allen hier
erwähnten Formen weiter, als die ſtrenge Richtung auf idealen Styl. —
Wir ſchließen dieſe Beſtimmungen über die Behandlung des Körpers mit den
Worten Winkelmanns über den vatican. Apollo (a. a. O. Bd. 4, S.
260): „Ueber die Menſchheit erhaben iſt ſein Gewächs und ſein Stand
zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling wie in dem
glücklichen Elyſium bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre
mit gefälliger Jugend und ſpielt mit ſanften Zärtlichkeiten auf dem ſtol-
zen Gebäude ſeiner Glieder. Gehe mit deinem Geiſte in das Reich un-
körperlicher Schönheiten und verſuche, ein Schöpfer himmliſcher Natur zu
werden, um den Geiſt mit Schönheiten, die ſich über die Natur erheben,
zu erfüllen: denn hier iſt nichts Sterbliches, noch was die menſchliche
Dürftigkeit erfordert. Keine Adern, noch Sehnen erhitzen und regen die-
ſen Körper, ſondern ein himmliſcher Geiſt, der ſich wie ein ſanfter Strom
ergoſſen, hat gleichſam die ganze Umſchreibung dieſer Figur erfüllet.“
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