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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Grenze; namentlich aber verbietet es ihr, tief in die individuellen2.
Formen einzugehen, und fordert bei härtern Abweichungen derselben vom Ur-
bilde schöner Menschheit mindestens Gediegenheit und Mächtigkeit der Gestalt.
Dadurch ist die Plastik bedeutend beschränkt im Bildniß und in der Darstellung
der geschichtlichen Schönheit.

1. In der Anwendung dieses Stylgesetzes ist zuerst die Behandlung
der menschlichen Gestalt zu erörtern. Die thierische kann nebenbei zur
Sprache kommen. Man blicke nun zurück auf den ganzen Abschnitt von
der menschlichen Schönheit in der Lehre vom Naturschönen. Dort ist zu-
erst die menschliche Schönheit überhaupt von der geschichtlich bedingten un-
terschieden; die Untereintheilungen in der Darstellung der ersteren sind:
allgemeine, besondere und individuelle Formen. Unser §. läßt sich auf
Alles, was unter diesen Eintheilungen befaßt ist, nur so weit ein, als es
der Standpunct mit sich bringt, unter dem er Alles betrachtet; er faßt
nämlich die menschliche Gestalt noch abgesehen von besondern Momenten
der Bewegung, ausdrücklichen Stimmungen, Lagen, Handlungen, ins Auge.
Diese Abstraction ist, wiewohl sie sich nicht absolut vollziehen läßt, noth-
wendig, weil die Klarheit erfordert, daß die Frage über das Gebiet der
Bewegungen, der innern und äußern, nachher für sich behandelt werde.
Die Gestalt kommt nun auch hier keineswegs als ein blos physisches Gebilde
in Betracht, wie sie dieß denn überhaupt nicht kann; es geht jedes Ge-
setz ihrer künstlerischen Behandlung aus jener Grundbestimmung der ge-
diegenen unmittelbaren Einheit von Geist und Sinnenleben hervor, deren
Ausdruck in der allgemeinen Erörterung vom Wesen der Sculptur dem
Bildner zur Aufgabe gestellt wurde, aber was in dieser Auffassung enthalten
ist, muß sich eben ganz in der Form niederschlagen, ganz Gestalt werden
und es handelt sich, da nun Alles sich technisch wendet, um Grundge-
setze in der Behandlung derselben, welche durch alle besonderen Formen,
Zustände, Bewegungen hindurch sich erhalten sollen. Das erste, allge-
meine Stylgesetz fordert, wie wir gesehen, große, ganze, ebenso geschwun-
gen fließende, als scharf bestimmte Umrisse. Was der Künstler nun immer
leisten mag in Erhöhung des Wohlgebildeten, Ausscheidung des Mißge-
bildeten in den Formen, die ihm der naturschöne Stoff darbietet: der
glückliche, der rechte Stoff ist vorausgesetzt. Dieß versteht sich bei aller
Kunst von selbst; die besondere Strenge der Plastik aber erheischt, daß
hier ausdrücklich von der Beschaffenheit des Stoffes die Rede sei; es
führt dieß hier zu durchaus wichtigen Begriffen, wodurch sich eine Lücke
ausfüllt, die wir bei Aufstellung des Prinzips der directen Idealisirung
stehen gelassen. Unser Stylgesetz ist aus §. 603 abgeleitet, der das Prin-
zip der directen Idealisirung auf die große Beschränktheit der plastischen

Grenze; namentlich aber verbietet es ihr, tief in die individuellen2.
Formen einzugehen, und fordert bei härtern Abweichungen derſelben vom Ur-
bilde ſchöner Menſchheit mindeſtens Gediegenheit und Mächtigkeit der Geſtalt.
Dadurch iſt die Plaſtik bedeutend beſchränkt im Bildniß und in der Darſtellung
der geſchichtlichen Schönheit.

1. In der Anwendung dieſes Stylgeſetzes iſt zuerſt die Behandlung
der menſchlichen Geſtalt zu erörtern. Die thieriſche kann nebenbei zur
Sprache kommen. Man blicke nun zurück auf den ganzen Abſchnitt von
der menſchlichen Schönheit in der Lehre vom Naturſchönen. Dort iſt zu-
erſt die menſchliche Schönheit überhaupt von der geſchichtlich bedingten un-
terſchieden; die Untereintheilungen in der Darſtellung der erſteren ſind:
allgemeine, beſondere und individuelle Formen. Unſer §. läßt ſich auf
Alles, was unter dieſen Eintheilungen befaßt iſt, nur ſo weit ein, als es
der Standpunct mit ſich bringt, unter dem er Alles betrachtet; er faßt
nämlich die menſchliche Geſtalt noch abgeſehen von beſondern Momenten
der Bewegung, ausdrücklichen Stimmungen, Lagen, Handlungen, ins Auge.
Dieſe Abſtraction iſt, wiewohl ſie ſich nicht abſolut vollziehen läßt, noth-
wendig, weil die Klarheit erfordert, daß die Frage über das Gebiet der
Bewegungen, der innern und äußern, nachher für ſich behandelt werde.
Die Geſtalt kommt nun auch hier keineswegs als ein blos phyſiſches Gebilde
in Betracht, wie ſie dieß denn überhaupt nicht kann; es geht jedes Ge-
ſetz ihrer künſtleriſchen Behandlung aus jener Grundbeſtimmung der ge-
diegenen unmittelbaren Einheit von Geiſt und Sinnenleben hervor, deren
Ausdruck in der allgemeinen Erörterung vom Weſen der Sculptur dem
Bildner zur Aufgabe geſtellt wurde, aber was in dieſer Auffaſſung enthalten
iſt, muß ſich eben ganz in der Form niederſchlagen, ganz Geſtalt werden
und es handelt ſich, da nun Alles ſich techniſch wendet, um Grundge-
ſetze in der Behandlung derſelben, welche durch alle beſonderen Formen,
Zuſtände, Bewegungen hindurch ſich erhalten ſollen. Das erſte, allge-
meine Stylgeſetz fordert, wie wir geſehen, große, ganze, ebenſo geſchwun-
gen fließende, als ſcharf beſtimmte Umriſſe. Was der Künſtler nun immer
leiſten mag in Erhöhung des Wohlgebildeten, Ausſcheidung des Mißge-
bildeten in den Formen, die ihm der naturſchöne Stoff darbietet: der
glückliche, der rechte Stoff iſt vorausgeſetzt. Dieß verſteht ſich bei aller
Kunſt von ſelbſt; die beſondere Strenge der Plaſtik aber erheiſcht, daß
hier ausdrücklich von der Beſchaffenheit des Stoffes die Rede ſei; es
führt dieß hier zu durchaus wichtigen Begriffen, wodurch ſich eine Lücke
ausfüllt, die wir bei Aufſtellung des Prinzips der directen Idealiſirung
ſtehen gelaſſen. Unſer Stylgeſetz iſt aus §. 603 abgeleitet, der das Prin-
zip der directen Idealiſirung auf die große Beſchränktheit der plaſtiſchen

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[407/0081] Grenze; namentlich aber verbietet es ihr, tief in die individuellen Formen einzugehen, und fordert bei härtern Abweichungen derſelben vom Ur- bilde ſchöner Menſchheit mindeſtens Gediegenheit und Mächtigkeit der Geſtalt. Dadurch iſt die Plaſtik bedeutend beſchränkt im Bildniß und in der Darſtellung der geſchichtlichen Schönheit. 1. In der Anwendung dieſes Stylgeſetzes iſt zuerſt die Behandlung der menſchlichen Geſtalt zu erörtern. Die thieriſche kann nebenbei zur Sprache kommen. Man blicke nun zurück auf den ganzen Abſchnitt von der menſchlichen Schönheit in der Lehre vom Naturſchönen. Dort iſt zu- erſt die menſchliche Schönheit überhaupt von der geſchichtlich bedingten un- terſchieden; die Untereintheilungen in der Darſtellung der erſteren ſind: allgemeine, beſondere und individuelle Formen. Unſer §. läßt ſich auf Alles, was unter dieſen Eintheilungen befaßt iſt, nur ſo weit ein, als es der Standpunct mit ſich bringt, unter dem er Alles betrachtet; er faßt nämlich die menſchliche Geſtalt noch abgeſehen von beſondern Momenten der Bewegung, ausdrücklichen Stimmungen, Lagen, Handlungen, ins Auge. Dieſe Abſtraction iſt, wiewohl ſie ſich nicht abſolut vollziehen läßt, noth- wendig, weil die Klarheit erfordert, daß die Frage über das Gebiet der Bewegungen, der innern und äußern, nachher für ſich behandelt werde. Die Geſtalt kommt nun auch hier keineswegs als ein blos phyſiſches Gebilde in Betracht, wie ſie dieß denn überhaupt nicht kann; es geht jedes Ge- ſetz ihrer künſtleriſchen Behandlung aus jener Grundbeſtimmung der ge- diegenen unmittelbaren Einheit von Geiſt und Sinnenleben hervor, deren Ausdruck in der allgemeinen Erörterung vom Weſen der Sculptur dem Bildner zur Aufgabe geſtellt wurde, aber was in dieſer Auffaſſung enthalten iſt, muß ſich eben ganz in der Form niederſchlagen, ganz Geſtalt werden und es handelt ſich, da nun Alles ſich techniſch wendet, um Grundge- ſetze in der Behandlung derſelben, welche durch alle beſonderen Formen, Zuſtände, Bewegungen hindurch ſich erhalten ſollen. Das erſte, allge- meine Stylgeſetz fordert, wie wir geſehen, große, ganze, ebenſo geſchwun- gen fließende, als ſcharf beſtimmte Umriſſe. Was der Künſtler nun immer leiſten mag in Erhöhung des Wohlgebildeten, Ausſcheidung des Mißge- bildeten in den Formen, die ihm der naturſchöne Stoff darbietet: der glückliche, der rechte Stoff iſt vorausgeſetzt. Dieß verſteht ſich bei aller Kunſt von ſelbſt; die beſondere Strenge der Plaſtik aber erheiſcht, daß hier ausdrücklich von der Beſchaffenheit des Stoffes die Rede ſei; es führt dieß hier zu durchaus wichtigen Begriffen, wodurch ſich eine Lücke ausfüllt, die wir bei Aufſtellung des Prinzips der directen Idealiſirung ſtehen gelaſſen. Unſer Stylgeſetz iſt aus §. 603 abgeleitet, der das Prin- zip der directen Idealiſirung auf die große Beſchränktheit der plaſtiſchen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/81>, abgerufen am 30.04.2024.