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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Zusammenhang beider Künste, den wir schon hinlänglich beleuchtet haben;
auch aus natürlichen äußern Gründen sucht die Plastik durch Umschließung ihr
Werk zu schützen; doch tritt dieser Anschluß nicht immer ein, das Bild-
werk kann auch unmittelbar in landschaftlicher Umgebung stehen. Zunächst
nun ist dieß Verhältniß zur architektonischen oder landschaftlichen Um-
gebung ein Verhältniß unfreier Abhängigkeit; diese Unfreiheit kann aber
auch hier zu einem freien Motive von Schönheit werden, ja muß es in
den meisten Fällen, denn daß man für die fertige Statue den Ort erst
sucht, ist der ungewöhnliche, der nicht natürliche Fall. Wird nun aber
das Bildwerk für eine bestimmte Umgebung meistens ursprünglich ent-
worfen, oder muß es doch mit dieser, wenn sie erst für es aufgesucht
wird, stimmen, so scheinen wir in die Malerei hinüberzukommen, welche
ihre Figuren für eine solche Umgebung componirt. Allein der unendliche
Unterschied bleibt der, daß diese Kunst die Umgebung selbst mitgibt, jene
nicht. Daher tritt auch hier wieder der rein ästhetisch begründete logische
Widerspruch der Phantasie auf, daß etwas zum ursprünglich Bezweckten
hinzutritt, was durch dasselbe an sich eigentlich überflüssig geworden wäre.
Die Gestalt erscheint in diesem schönen Widerspruch wie ein Geist, der,
den Bedingungen des Daseins entnommen, aus seinem reinen Aether
zur Erde herschwebt, um in der bedingten und bedingenden Existenz,
die ihn nicht oder nicht mehr bindet, sich mit freier Seligkeit umzuschauen.
Dieß "nicht oder nicht mehr" unterscheidet die im engsten Sinn ideale
und die zunächst realer bestimmte Natur. Der Gott ist eigentlich das
Weltall selbst, er hat aber eine Welt außer sich hervorgebracht: er thront
nun in ruhiger Majestät in ihrem idealen Abbilde, dem Tempel. Vom
Standpuncte der strengsten Logik betrachtet wäre schon die Tempel-Auf-
stellung ein Widerspruch, denn das absolute Wesen wohnt eigentlich
nicht. Doch ist der Tempel eine unendliche Abbreviatur des Naturlebens,
ideales Gebilde wie der Gott selbst. Neben diesem idealen Abbild breitet
sich das reale Urbild desselben als empirische Natur aus, worin der Gott,
als lebendes Wesen vorgestellt, waltet. Eigentlich ist schon diese Vor-
stellung des Waltens ein Widerspruch, denn er ist die Natur, sie ist in
ihm zum Individuum aufgehoben, also kann sie, streng genommen, nicht
neben ihm auch sein. Sie ist aber doch neben ihm; er ist der Geist der
Sonne, des Luftraumes, des Meeres, der Erde, diese sind der Körper
des Geistes, neben dem der Geist eigentlich nicht überdieß einen besondern,
individuellen Körper besitzen kann, er besitzt ihn aber doch und neben ihm
breitet sich jener nicht individuelle Körper aus. Wird nun der Gott in
Kunstgestalt hineingestellt in diesen seinen Schauplatz, so ist der Wider-
spruch noch vollständiger, denn die ideale Zusammenziehung der äußern
Natur ist nun im Götterbilde bis zur geschlossenen Verfestigung vollzogen;

Zuſammenhang beider Künſte, den wir ſchon hinlänglich beleuchtet haben;
auch aus natürlichen äußern Gründen ſucht die Plaſtik durch Umſchließung ihr
Werk zu ſchützen; doch tritt dieſer Anſchluß nicht immer ein, das Bild-
werk kann auch unmittelbar in landſchaftlicher Umgebung ſtehen. Zunächſt
nun iſt dieß Verhältniß zur architektoniſchen oder landſchaftlichen Um-
gebung ein Verhältniß unfreier Abhängigkeit; dieſe Unfreiheit kann aber
auch hier zu einem freien Motive von Schönheit werden, ja muß es in
den meiſten Fällen, denn daß man für die fertige Statue den Ort erſt
ſucht, iſt der ungewöhnliche, der nicht natürliche Fall. Wird nun aber
das Bildwerk für eine beſtimmte Umgebung meiſtens urſprünglich ent-
worfen, oder muß es doch mit dieſer, wenn ſie erſt für es aufgeſucht
wird, ſtimmen, ſo ſcheinen wir in die Malerei hinüberzukommen, welche
ihre Figuren für eine ſolche Umgebung componirt. Allein der unendliche
Unterſchied bleibt der, daß dieſe Kunſt die Umgebung ſelbſt mitgibt, jene
nicht. Daher tritt auch hier wieder der rein äſthetiſch begründete logiſche
Widerſpruch der Phantaſie auf, daß etwas zum urſprünglich Bezweckten
hinzutritt, was durch daſſelbe an ſich eigentlich überflüſſig geworden wäre.
Die Geſtalt erſcheint in dieſem ſchönen Widerſpruch wie ein Geiſt, der,
den Bedingungen des Daſeins entnommen, aus ſeinem reinen Aether
zur Erde herſchwebt, um in der bedingten und bedingenden Exiſtenz,
die ihn nicht oder nicht mehr bindet, ſich mit freier Seligkeit umzuſchauen.
Dieß „nicht oder nicht mehr“ unterſcheidet die im engſten Sinn ideale
und die zunächſt realer beſtimmte Natur. Der Gott iſt eigentlich das
Weltall ſelbſt, er hat aber eine Welt außer ſich hervorgebracht: er thront
nun in ruhiger Majeſtät in ihrem idealen Abbilde, dem Tempel. Vom
Standpuncte der ſtrengſten Logik betrachtet wäre ſchon die Tempel-Auf-
ſtellung ein Widerſpruch, denn das abſolute Weſen wohnt eigentlich
nicht. Doch iſt der Tempel eine unendliche Abbreviatur des Naturlebens,
ideales Gebilde wie der Gott ſelbſt. Neben dieſem idealen Abbild breitet
ſich das reale Urbild deſſelben als empiriſche Natur aus, worin der Gott,
als lebendes Weſen vorgeſtellt, waltet. Eigentlich iſt ſchon dieſe Vor-
ſtellung des Waltens ein Widerſpruch, denn er iſt die Natur, ſie iſt in
ihm zum Individuum aufgehoben, alſo kann ſie, ſtreng genommen, nicht
neben ihm auch ſein. Sie iſt aber doch neben ihm; er iſt der Geiſt der
Sonne, des Luftraumes, des Meeres, der Erde, dieſe ſind der Körper
des Geiſtes, neben dem der Geiſt eigentlich nicht überdieß einen beſondern,
individuellen Körper beſitzen kann, er beſitzt ihn aber doch und neben ihm
breitet ſich jener nicht individuelle Körper aus. Wird nun der Gott in
Kunſtgeſtalt hineingeſtellt in dieſen ſeinen Schauplatz, ſo iſt der Wider-
ſpruch noch vollſtändiger, denn die ideale Zuſammenziehung der äußern
Natur iſt nun im Götterbilde bis zur geſchloſſenen Verfeſtigung vollzogen;

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[386/0060] Zuſammenhang beider Künſte, den wir ſchon hinlänglich beleuchtet haben; auch aus natürlichen äußern Gründen ſucht die Plaſtik durch Umſchließung ihr Werk zu ſchützen; doch tritt dieſer Anſchluß nicht immer ein, das Bild- werk kann auch unmittelbar in landſchaftlicher Umgebung ſtehen. Zunächſt nun iſt dieß Verhältniß zur architektoniſchen oder landſchaftlichen Um- gebung ein Verhältniß unfreier Abhängigkeit; dieſe Unfreiheit kann aber auch hier zu einem freien Motive von Schönheit werden, ja muß es in den meiſten Fällen, denn daß man für die fertige Statue den Ort erſt ſucht, iſt der ungewöhnliche, der nicht natürliche Fall. Wird nun aber das Bildwerk für eine beſtimmte Umgebung meiſtens urſprünglich ent- worfen, oder muß es doch mit dieſer, wenn ſie erſt für es aufgeſucht wird, ſtimmen, ſo ſcheinen wir in die Malerei hinüberzukommen, welche ihre Figuren für eine ſolche Umgebung componirt. Allein der unendliche Unterſchied bleibt der, daß dieſe Kunſt die Umgebung ſelbſt mitgibt, jene nicht. Daher tritt auch hier wieder der rein äſthetiſch begründete logiſche Widerſpruch der Phantaſie auf, daß etwas zum urſprünglich Bezweckten hinzutritt, was durch daſſelbe an ſich eigentlich überflüſſig geworden wäre. Die Geſtalt erſcheint in dieſem ſchönen Widerſpruch wie ein Geiſt, der, den Bedingungen des Daſeins entnommen, aus ſeinem reinen Aether zur Erde herſchwebt, um in der bedingten und bedingenden Exiſtenz, die ihn nicht oder nicht mehr bindet, ſich mit freier Seligkeit umzuſchauen. Dieß „nicht oder nicht mehr“ unterſcheidet die im engſten Sinn ideale und die zunächſt realer beſtimmte Natur. Der Gott iſt eigentlich das Weltall ſelbſt, er hat aber eine Welt außer ſich hervorgebracht: er thront nun in ruhiger Majeſtät in ihrem idealen Abbilde, dem Tempel. Vom Standpuncte der ſtrengſten Logik betrachtet wäre ſchon die Tempel-Auf- ſtellung ein Widerſpruch, denn das abſolute Weſen wohnt eigentlich nicht. Doch iſt der Tempel eine unendliche Abbreviatur des Naturlebens, ideales Gebilde wie der Gott ſelbſt. Neben dieſem idealen Abbild breitet ſich das reale Urbild deſſelben als empiriſche Natur aus, worin der Gott, als lebendes Weſen vorgeſtellt, waltet. Eigentlich iſt ſchon dieſe Vor- ſtellung des Waltens ein Widerſpruch, denn er iſt die Natur, ſie iſt in ihm zum Individuum aufgehoben, alſo kann ſie, ſtreng genommen, nicht neben ihm auch ſein. Sie iſt aber doch neben ihm; er iſt der Geiſt der Sonne, des Luftraumes, des Meeres, der Erde, dieſe ſind der Körper des Geiſtes, neben dem der Geiſt eigentlich nicht überdieß einen beſondern, individuellen Körper beſitzen kann, er beſitzt ihn aber doch und neben ihm breitet ſich jener nicht individuelle Körper aus. Wird nun der Gott in Kunſtgeſtalt hineingeſtellt in dieſen ſeinen Schauplatz, ſo iſt der Wider- ſpruch noch vollſtändiger, denn die ideale Zuſammenziehung der äußern Natur iſt nun im Götterbilde bis zur geſchloſſenen Verfeſtigung vollzogen;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/60>, abgerufen am 30.04.2024.