Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

das Ganze, ist unendliche Persönlichkeit, das Ideal selbst, Einheit des Subjec-
tiven und Objectiven im höchsten Sinne. Ein Abglanz dieses Lichts fällt auch
auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darstellung kommen.

Der §. steigt in drei Schritten zum höchsten Schlußbegriffe vom
Wesen der Plastik auf. Zuerst wird dem Satze (§. 605), daß die Per-
sönlichkeit, wie sie in der Bildnerkunst sich darstellt, nicht den Ausdruck
einer Sammlung tragen kann, die auf eine aus der sinnlichen Lebensfülle
zurückgenommene Innerlichkeit hinweist, der andere gegenübergestellt, daß
dieselbe ebensoweit vom Ausdruck einer Zerfahrenheit, Zerstreutheit, eines
Hingenommenseins von Anderem entfernt sein muß. Es ist dieß nur eine
weitere Entwicklung jener Bestimmungen von der Gediegenheit, Gewichtigkeit,
von dem Ruhen auf dem eigenen Schwerpunct, von der Substantialität
der plastischen Persönlichkeit, es folgt aber auch namentlich aus jenem
Darstellungsgesetze, das wir nachher in ein höheres Licht stellen wer-
den, daß nämlich der Individualität kein Hintergrund mitgegeben wird,
denn es sind die wechselnden Umgebungen mit ihren unendlichen Anre-
gungen, welche den Menschen bald so, bald so bestimmend das Element
der Zufälligkeit und daher der Zerstreutheit mit sich führen. Eine so in sich
geschlossene, ringsum wie mit scharfem Messer abgeschnittene Gestalt wird
auch dann, wenn sie in einem Momente aufgefaßt ist, wo sie sich mit
etwas außer sich befaßt, mit andern Personen in gemeinschaftliches Thun
oder Kampf sich einläßt oder nur aufmerksam auf irgend ein Object hin-
gerichtet ist, ja wo sie leidet, doch in ihrem innersten Grunde ungestört
einig mit sich erscheinen, es ist kampfloser Kampf, ein Aussichherausgehen,
das doch in sich bleibt, ein Einlassen, das sich nicht einläßt, ein Streben,
das als Form des Strebens ideal ist, gleichgültig, ob es sein Object er-
reicht. Dahin haben wir schon in der Anm. zu §. 602 gedeutet, indem
wir sagten, daß mit dem Charakter ruhiger Abgeschlossenheit eine leb-
hafte Thätigkeit vollkommen vereinbar sei. Dieser Zug des festen Insich-
bleibens widerspricht auch nicht dem in der weiteren Entwicklung aufge-
wiesenen Zuge der Naivetät, die frisch im Naturleben webt, ebendaher
Auge und Sinn offen hat, sich nicht verschließt, nicht in ein selbstbewuß-
tes Ich und geheimes Empfindungsleben zurückzieht. Gerade die punc-
tuell auf ihr Ich vereinzelte Persönlichkeit ist diejenige, welche, weil sie
nicht im Allgemeinen lebt, von den Theilen des Allgemeinen, die eine
wirre Vielheit von Reizen auf sie ausüben, auseinandergezogen wird,
unruhig umherfährt; die naturfrisch geöffnete Persönlichkeit ist in der Be-
rührung mit diesen Theilen bei sich; sie ist, wenn sie hinaustritt, doch zu
Hause, bleibt daher bei aller Bewegung unbewegt in ihrem ruhigen, tie-
fen, weltweiten, allgemeinen Grunde. "Allgemein": dieß Wort erhält

das Ganze, iſt unendliche Perſönlichkeit, das Ideal ſelbſt, Einheit des Subjec-
tiven und Objectiven im höchſten Sinne. Ein Abglanz dieſes Lichts fällt auch
auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen.

Der §. ſteigt in drei Schritten zum höchſten Schlußbegriffe vom
Weſen der Plaſtik auf. Zuerſt wird dem Satze (§. 605), daß die Per-
ſönlichkeit, wie ſie in der Bildnerkunſt ſich darſtellt, nicht den Ausdruck
einer Sammlung tragen kann, die auf eine aus der ſinnlichen Lebensfülle
zurückgenommene Innerlichkeit hinweist, der andere gegenübergeſtellt, daß
dieſelbe ebenſoweit vom Ausdruck einer Zerfahrenheit, Zerſtreutheit, eines
Hingenommenſeins von Anderem entfernt ſein muß. Es iſt dieß nur eine
weitere Entwicklung jener Beſtimmungen von der Gediegenheit, Gewichtigkeit,
von dem Ruhen auf dem eigenen Schwerpunct, von der Subſtantialität
der plaſtiſchen Perſönlichkeit, es folgt aber auch namentlich aus jenem
Darſtellungsgeſetze, das wir nachher in ein höheres Licht ſtellen wer-
den, daß nämlich der Individualität kein Hintergrund mitgegeben wird,
denn es ſind die wechſelnden Umgebungen mit ihren unendlichen Anre-
gungen, welche den Menſchen bald ſo, bald ſo beſtimmend das Element
der Zufälligkeit und daher der Zerſtreutheit mit ſich führen. Eine ſo in ſich
geſchloſſene, ringsum wie mit ſcharfem Meſſer abgeſchnittene Geſtalt wird
auch dann, wenn ſie in einem Momente aufgefaßt iſt, wo ſie ſich mit
etwas außer ſich befaßt, mit andern Perſonen in gemeinſchaftliches Thun
oder Kampf ſich einläßt oder nur aufmerkſam auf irgend ein Object hin-
gerichtet iſt, ja wo ſie leidet, doch in ihrem innerſten Grunde ungeſtört
einig mit ſich erſcheinen, es iſt kampfloſer Kampf, ein Ausſichherausgehen,
das doch in ſich bleibt, ein Einlaſſen, das ſich nicht einläßt, ein Streben,
das als Form des Strebens ideal iſt, gleichgültig, ob es ſein Object er-
reicht. Dahin haben wir ſchon in der Anm. zu §. 602 gedeutet, indem
wir ſagten, daß mit dem Charakter ruhiger Abgeſchloſſenheit eine leb-
hafte Thätigkeit vollkommen vereinbar ſei. Dieſer Zug des feſten Inſich-
bleibens widerſpricht auch nicht dem in der weiteren Entwicklung aufge-
wieſenen Zuge der Naivetät, die friſch im Naturleben webt, ebendaher
Auge und Sinn offen hat, ſich nicht verſchließt, nicht in ein ſelbſtbewuß-
tes Ich und geheimes Empfindungsleben zurückzieht. Gerade die punc-
tuell auf ihr Ich vereinzelte Perſönlichkeit iſt diejenige, welche, weil ſie
nicht im Allgemeinen lebt, von den Theilen des Allgemeinen, die eine
wirre Vielheit von Reizen auf ſie ausüben, auseinandergezogen wird,
unruhig umherfährt; die naturfriſch geöffnete Perſönlichkeit iſt in der Be-
rührung mit dieſen Theilen bei ſich; ſie iſt, wenn ſie hinaustritt, doch zu
Hauſe, bleibt daher bei aller Bewegung unbewegt in ihrem ruhigen, tie-
fen, weltweiten, allgemeinen Grunde. „Allgemein“: dieß Wort erhält

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0040" n="366"/>
das Ganze, i&#x017F;t unendliche Per&#x017F;önlichkeit, das Ideal &#x017F;elb&#x017F;t, Einheit des Subjec-<lb/>
tiven und Objectiven im höch&#x017F;ten Sinne. Ein Abglanz die&#x017F;es Lichts fällt auch<lb/>
auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Dar&#x017F;tellung kommen.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">Der §. &#x017F;teigt in drei Schritten zum höch&#x017F;ten Schlußbegriffe vom<lb/>
We&#x017F;en der Pla&#x017F;tik auf. Zuer&#x017F;t wird dem Satze (§. 605), daß die Per-<lb/>
&#x017F;önlichkeit, wie &#x017F;ie in der Bildnerkun&#x017F;t &#x017F;ich dar&#x017F;tellt, nicht den Ausdruck<lb/>
einer Sammlung tragen kann, die auf eine aus der &#x017F;innlichen Lebensfülle<lb/>
zurückgenommene Innerlichkeit hinweist, der andere gegenüberge&#x017F;tellt, daß<lb/>
die&#x017F;elbe eben&#x017F;oweit vom Ausdruck einer Zerfahrenheit, Zer&#x017F;treutheit, eines<lb/>
Hingenommen&#x017F;eins von Anderem entfernt &#x017F;ein muß. Es i&#x017F;t dieß nur eine<lb/>
weitere Entwicklung jener Be&#x017F;timmungen von der Gediegenheit, Gewichtigkeit,<lb/>
von dem Ruhen auf dem eigenen Schwerpunct, von der Sub&#x017F;tantialität<lb/>
der pla&#x017F;ti&#x017F;chen Per&#x017F;önlichkeit, es folgt aber auch namentlich aus jenem<lb/>
Dar&#x017F;tellungsge&#x017F;etze, das wir nachher in ein höheres Licht &#x017F;tellen wer-<lb/>
den, daß nämlich der Individualität kein Hintergrund mitgegeben wird,<lb/>
denn es &#x017F;ind die wech&#x017F;elnden Umgebungen mit ihren unendlichen Anre-<lb/>
gungen, welche den Men&#x017F;chen bald &#x017F;o, bald &#x017F;o be&#x017F;timmend das Element<lb/>
der Zufälligkeit und daher der Zer&#x017F;treutheit mit &#x017F;ich führen. Eine &#x017F;o in &#x017F;ich<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene, ringsum wie mit &#x017F;charfem Me&#x017F;&#x017F;er abge&#x017F;chnittene Ge&#x017F;talt wird<lb/>
auch dann, wenn &#x017F;ie in einem Momente aufgefaßt i&#x017F;t, wo &#x017F;ie &#x017F;ich mit<lb/>
etwas außer &#x017F;ich befaßt, mit andern Per&#x017F;onen in gemein&#x017F;chaftliches Thun<lb/>
oder Kampf &#x017F;ich einläßt oder nur aufmerk&#x017F;am auf irgend ein Object hin-<lb/>
gerichtet i&#x017F;t, ja wo &#x017F;ie leidet, doch in ihrem inner&#x017F;ten Grunde unge&#x017F;tört<lb/>
einig mit &#x017F;ich er&#x017F;cheinen, es i&#x017F;t kampflo&#x017F;er Kampf, ein Aus&#x017F;ichherausgehen,<lb/>
das doch in &#x017F;ich bleibt, ein Einla&#x017F;&#x017F;en, das &#x017F;ich nicht einläßt, ein Streben,<lb/>
das als Form des Strebens ideal i&#x017F;t, gleichgültig, ob es &#x017F;ein Object er-<lb/>
reicht. Dahin haben wir &#x017F;chon in der Anm. zu §. 602 gedeutet, indem<lb/>
wir &#x017F;agten, daß mit dem Charakter ruhiger Abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit eine leb-<lb/>
hafte Thätigkeit vollkommen vereinbar &#x017F;ei. Die&#x017F;er Zug des fe&#x017F;ten In&#x017F;ich-<lb/>
bleibens wider&#x017F;pricht auch nicht dem in der weiteren Entwicklung aufge-<lb/>
wie&#x017F;enen Zuge der Naivetät, die fri&#x017F;ch im Naturleben webt, ebendaher<lb/>
Auge und Sinn offen hat, &#x017F;ich nicht ver&#x017F;chließt, nicht in ein &#x017F;elb&#x017F;tbewuß-<lb/>
tes Ich und geheimes Empfindungsleben zurückzieht. Gerade die punc-<lb/>
tuell auf ihr Ich vereinzelte Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t diejenige, welche, weil &#x017F;ie<lb/>
nicht im Allgemeinen lebt, von den Theilen des Allgemeinen, die eine<lb/>
wirre Vielheit von Reizen auf &#x017F;ie ausüben, auseinandergezogen wird,<lb/>
unruhig umherfährt; die naturfri&#x017F;ch geöffnete Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t in der Be-<lb/>
rührung mit die&#x017F;en Theilen bei &#x017F;ich; &#x017F;ie i&#x017F;t, wenn &#x017F;ie hinaustritt, doch zu<lb/>
Hau&#x017F;e, bleibt daher bei aller Bewegung unbewegt in ihrem ruhigen, tie-<lb/>
fen, weltweiten, allgemeinen Grunde. &#x201E;Allgemein&#x201C;: dieß Wort erhält<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[366/0040] das Ganze, iſt unendliche Perſönlichkeit, das Ideal ſelbſt, Einheit des Subjec- tiven und Objectiven im höchſten Sinne. Ein Abglanz dieſes Lichts fällt auch auf die Naturen, die ausdrücklich als endliche zur Darſtellung kommen. Der §. ſteigt in drei Schritten zum höchſten Schlußbegriffe vom Weſen der Plaſtik auf. Zuerſt wird dem Satze (§. 605), daß die Per- ſönlichkeit, wie ſie in der Bildnerkunſt ſich darſtellt, nicht den Ausdruck einer Sammlung tragen kann, die auf eine aus der ſinnlichen Lebensfülle zurückgenommene Innerlichkeit hinweist, der andere gegenübergeſtellt, daß dieſelbe ebenſoweit vom Ausdruck einer Zerfahrenheit, Zerſtreutheit, eines Hingenommenſeins von Anderem entfernt ſein muß. Es iſt dieß nur eine weitere Entwicklung jener Beſtimmungen von der Gediegenheit, Gewichtigkeit, von dem Ruhen auf dem eigenen Schwerpunct, von der Subſtantialität der plaſtiſchen Perſönlichkeit, es folgt aber auch namentlich aus jenem Darſtellungsgeſetze, das wir nachher in ein höheres Licht ſtellen wer- den, daß nämlich der Individualität kein Hintergrund mitgegeben wird, denn es ſind die wechſelnden Umgebungen mit ihren unendlichen Anre- gungen, welche den Menſchen bald ſo, bald ſo beſtimmend das Element der Zufälligkeit und daher der Zerſtreutheit mit ſich führen. Eine ſo in ſich geſchloſſene, ringsum wie mit ſcharfem Meſſer abgeſchnittene Geſtalt wird auch dann, wenn ſie in einem Momente aufgefaßt iſt, wo ſie ſich mit etwas außer ſich befaßt, mit andern Perſonen in gemeinſchaftliches Thun oder Kampf ſich einläßt oder nur aufmerkſam auf irgend ein Object hin- gerichtet iſt, ja wo ſie leidet, doch in ihrem innerſten Grunde ungeſtört einig mit ſich erſcheinen, es iſt kampfloſer Kampf, ein Ausſichherausgehen, das doch in ſich bleibt, ein Einlaſſen, das ſich nicht einläßt, ein Streben, das als Form des Strebens ideal iſt, gleichgültig, ob es ſein Object er- reicht. Dahin haben wir ſchon in der Anm. zu §. 602 gedeutet, indem wir ſagten, daß mit dem Charakter ruhiger Abgeſchloſſenheit eine leb- hafte Thätigkeit vollkommen vereinbar ſei. Dieſer Zug des feſten Inſich- bleibens widerſpricht auch nicht dem in der weiteren Entwicklung aufge- wieſenen Zuge der Naivetät, die friſch im Naturleben webt, ebendaher Auge und Sinn offen hat, ſich nicht verſchließt, nicht in ein ſelbſtbewuß- tes Ich und geheimes Empfindungsleben zurückzieht. Gerade die punc- tuell auf ihr Ich vereinzelte Perſönlichkeit iſt diejenige, welche, weil ſie nicht im Allgemeinen lebt, von den Theilen des Allgemeinen, die eine wirre Vielheit von Reizen auf ſie ausüben, auseinandergezogen wird, unruhig umherfährt; die naturfriſch geöffnete Perſönlichkeit iſt in der Be- rührung mit dieſen Theilen bei ſich; ſie iſt, wenn ſie hinaustritt, doch zu Hauſe, bleibt daher bei aller Bewegung unbewegt in ihrem ruhigen, tie- fen, weltweiten, allgemeinen Grunde. „Allgemein“: dieß Wort erhält

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/40
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/40>, abgerufen am 21.11.2024.