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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Kräfte, die ungetrübte Einheit der Menschennatur in ihrer Einfalt und
Anmuth, die Charis in der Eris, im Kampfe selbst die kampflose Schön-
heit die Grundlage bleibe. Schon in §. 73 wurde die Grazie im enge-
ren Sinne, die des einfach Schönen, von einer solchen unterschieden, die
auch dem Erhabenen und Komischen eigen ist. Die Bildnerkunst muß
die hohe Grazie des Erhabenen und die ungezogene des Komischen ihrem
Grundgesetz entsprechend unmittelbarer, als die anderen Künste, in der
Form der einzelnen Gestalt selbst, retten. Der Umfang des Erhabenen
und Komischen wird dadurch, wie wir schon gesehen, allerdings an sich
verengt, allein so weit es waltet, muß diese keusche Kunst ihren ganzen
Zauber, ihr zartestes Styl-Geheimniß entfalten. Wir werden in der spe-
ziellen Erörterung der Stylgesetze sehen, wie beschaffen demgemäß die
Formenwelt der Plastik sein muß. Klar ist hier vorerst so viel, daß diese
Formenwelt ein Inneres ausdrücken muß, das auch im Widerstreit seine
Harmonie, die unbewegte Ruhe seiner Tiefe bewahrt, und der folgende
§. wird diesen Punct noch einmal auffassen, um zum letzten und höchsten
Begriffe zu gelangen. Die vorläufige Ankündigung der hier entwickelten
Begriffe, wie sie zu §. 404 Th. II, S. 380 gegeben ist, berührt auch
schon den Unterschied der rein menschlichen Phantasie (nebst der thierischen)
und der geschichtlichen. Es ist klar, wie die letztere in das individuelle
Leben mit einer Derbheit eingehen muß, welche mit dem Prinzip der
directen Idealisirung schwer vereinbar ist; die Erörterung dieses wichtigen
Punctes bleibt aber mit der ganzen Frage über die bedingte Geltung des
Prinzips, das diesem entgegensteht, im plastischen Gebiet ihrem beson-
deren Orte vorbehalten.

§. 606.

Aus diesen Grundzügen der plastischen Schönheit ergibt sich der weitere,
daß die dargestellte Persönlichkeit, so wenig sie aus ihrem Sinnenleben sich in
subjectiver Innerlichkeit zurücknimmt, ebensowenig bei allem Einlassen in An-
deres sich zerstreut, sondern selbstgenugsam in sich bleibt. Damit zusammenge-
faßt erhält nun auch das Gesetz der Sparsamkeit in der Zahl der Figuren
(§: 601) und das Hindrängen zur Aufstellung blos Einer Gestalt als der ge-
mäßesten Aufgabe (§. 603) positive, geistige Bedeutung und Kraft: die Eine
Gestalt vertritt das Ganze der Gattung. Zugleich kommt jetzt auch der tiefere
Sinn zu Tage, welcher der Weglassung des räumlich Umgebenden (§. 599) zu
Grunde liegt: die dargestellte Persönlichkeit ist auf keine Natur außer ihr be-
zogen, weil sie die gesammte Natur in sich trägt. Vereinigt dieselbe nun so
die Natur und die Menschheit in sich, so ist sie nicht nur ein Ganzes, sondern

Kräfte, die ungetrübte Einheit der Menſchennatur in ihrer Einfalt und
Anmuth, die Charis in der Eris, im Kampfe ſelbſt die kampfloſe Schön-
heit die Grundlage bleibe. Schon in §. 73 wurde die Grazie im enge-
ren Sinne, die des einfach Schönen, von einer ſolchen unterſchieden, die
auch dem Erhabenen und Komiſchen eigen iſt. Die Bildnerkunſt muß
die hohe Grazie des Erhabenen und die ungezogene des Komiſchen ihrem
Grundgeſetz entſprechend unmittelbarer, als die anderen Künſte, in der
Form der einzelnen Geſtalt ſelbſt, retten. Der Umfang des Erhabenen
und Komiſchen wird dadurch, wie wir ſchon geſehen, allerdings an ſich
verengt, allein ſo weit es waltet, muß dieſe keuſche Kunſt ihren ganzen
Zauber, ihr zarteſtes Styl-Geheimniß entfalten. Wir werden in der ſpe-
ziellen Erörterung der Stylgeſetze ſehen, wie beſchaffen demgemäß die
Formenwelt der Plaſtik ſein muß. Klar iſt hier vorerſt ſo viel, daß dieſe
Formenwelt ein Inneres ausdrücken muß, das auch im Widerſtreit ſeine
Harmonie, die unbewegte Ruhe ſeiner Tiefe bewahrt, und der folgende
§. wird dieſen Punct noch einmal auffaſſen, um zum letzten und höchſten
Begriffe zu gelangen. Die vorläufige Ankündigung der hier entwickelten
Begriffe, wie ſie zu §. 404 Th. II, S. 380 gegeben iſt, berührt auch
ſchon den Unterſchied der rein menſchlichen Phantaſie (nebſt der thieriſchen)
und der geſchichtlichen. Es iſt klar, wie die letztere in das individuelle
Leben mit einer Derbheit eingehen muß, welche mit dem Prinzip der
directen Idealiſirung ſchwer vereinbar iſt; die Erörterung dieſes wichtigen
Punctes bleibt aber mit der ganzen Frage über die bedingte Geltung des
Prinzips, das dieſem entgegenſteht, im plaſtiſchen Gebiet ihrem beſon-
deren Orte vorbehalten.

§. 606.

Aus dieſen Grundzügen der plaſtiſchen Schönheit ergibt ſich der weitere,
daß die dargeſtellte Perſönlichkeit, ſo wenig ſie aus ihrem Sinnenleben ſich in
ſubjectiver Innerlichkeit zurücknimmt, ebenſowenig bei allem Einlaſſen in An-
deres ſich zerſtreut, ſondern ſelbſtgenugſam in ſich bleibt. Damit zuſammenge-
faßt erhält nun auch das Geſetz der Sparſamkeit in der Zahl der Figuren
(§: 601) und das Hindrängen zur Aufſtellung blos Einer Geſtalt als der ge-
mäßeſten Aufgabe (§. 603) poſitive, geiſtige Bedeutung und Kraft: die Eine
Geſtalt vertritt das Ganze der Gattung. Zugleich kommt jetzt auch der tiefere
Sinn zu Tage, welcher der Weglaſſung des räumlich Umgebenden (§. 599) zu
Grunde liegt: die dargeſtellte Perſönlichkeit iſt auf keine Natur außer ihr be-
zogen, weil ſie die geſammte Natur in ſich trägt. Vereinigt dieſelbe nun ſo
die Natur und die Menſchheit in ſich, ſo iſt ſie nicht nur ein Ganzes, ſondern

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[365/0039] Kräfte, die ungetrübte Einheit der Menſchennatur in ihrer Einfalt und Anmuth, die Charis in der Eris, im Kampfe ſelbſt die kampfloſe Schön- heit die Grundlage bleibe. Schon in §. 73 wurde die Grazie im enge- ren Sinne, die des einfach Schönen, von einer ſolchen unterſchieden, die auch dem Erhabenen und Komiſchen eigen iſt. Die Bildnerkunſt muß die hohe Grazie des Erhabenen und die ungezogene des Komiſchen ihrem Grundgeſetz entſprechend unmittelbarer, als die anderen Künſte, in der Form der einzelnen Geſtalt ſelbſt, retten. Der Umfang des Erhabenen und Komiſchen wird dadurch, wie wir ſchon geſehen, allerdings an ſich verengt, allein ſo weit es waltet, muß dieſe keuſche Kunſt ihren ganzen Zauber, ihr zarteſtes Styl-Geheimniß entfalten. Wir werden in der ſpe- ziellen Erörterung der Stylgeſetze ſehen, wie beſchaffen demgemäß die Formenwelt der Plaſtik ſein muß. Klar iſt hier vorerſt ſo viel, daß dieſe Formenwelt ein Inneres ausdrücken muß, das auch im Widerſtreit ſeine Harmonie, die unbewegte Ruhe ſeiner Tiefe bewahrt, und der folgende §. wird dieſen Punct noch einmal auffaſſen, um zum letzten und höchſten Begriffe zu gelangen. Die vorläufige Ankündigung der hier entwickelten Begriffe, wie ſie zu §. 404 Th. II, S. 380 gegeben iſt, berührt auch ſchon den Unterſchied der rein menſchlichen Phantaſie (nebſt der thieriſchen) und der geſchichtlichen. Es iſt klar, wie die letztere in das individuelle Leben mit einer Derbheit eingehen muß, welche mit dem Prinzip der directen Idealiſirung ſchwer vereinbar iſt; die Erörterung dieſes wichtigen Punctes bleibt aber mit der ganzen Frage über die bedingte Geltung des Prinzips, das dieſem entgegenſteht, im plaſtiſchen Gebiet ihrem beſon- deren Orte vorbehalten. §. 606. Aus dieſen Grundzügen der plaſtiſchen Schönheit ergibt ſich der weitere, daß die dargeſtellte Perſönlichkeit, ſo wenig ſie aus ihrem Sinnenleben ſich in ſubjectiver Innerlichkeit zurücknimmt, ebenſowenig bei allem Einlaſſen in An- deres ſich zerſtreut, ſondern ſelbſtgenugſam in ſich bleibt. Damit zuſammenge- faßt erhält nun auch das Geſetz der Sparſamkeit in der Zahl der Figuren (§: 601) und das Hindrängen zur Aufſtellung blos Einer Geſtalt als der ge- mäßeſten Aufgabe (§. 603) poſitive, geiſtige Bedeutung und Kraft: die Eine Geſtalt vertritt das Ganze der Gattung. Zugleich kommt jetzt auch der tiefere Sinn zu Tage, welcher der Weglaſſung des räumlich Umgebenden (§. 599) zu Grunde liegt: die dargeſtellte Perſönlichkeit iſt auf keine Natur außer ihr be- zogen, weil ſie die geſammte Natur in ſich trägt. Vereinigt dieſelbe nun ſo die Natur und die Menſchheit in ſich, ſo iſt ſie nicht nur ein Ganzes, ſondern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/39>, abgerufen am 03.12.2024.