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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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frage, die mit ihr gegeben ist, zurückkommen. In der späteren Renais-
sance fehlt es nicht an Werken, die in dieser Richtung liegen, energischen
Ritter- und Landsknechtgestalten als Wappenhalter, Ehren- und Grab-
Monumente, selbst der Rokoko hat noch schöne historische Büsten; allein
es bemächtigt sich der ganzen plastischen Kunstrichtung zunächst ein an-
derer Zug.

2. Man blicke zurück auf die geschichtlichen Formen des ausgehen-
den Mittelalters §. 362 ff., dann der ersten Gestaltungen der neuen Zeit
§. 366 ff., die Entfeßlung des Individuellen, Subjectiven, die Jagd
wilder Leidenschaften, welche darauf folgt, die geschweiften, luftigen, be-
wegten Culturformen neben der noch nicht aufgegebenen hartschaaligen
Ritterrüstung; später, nachdem die centralisirende Monarchie ihren mo-
dernen Thron in Frankreich aufgerichtet, den Sinnenkitzel der eiteln Auf-
klärung mit seinen Formen; man vergleiche dann die Gestaltung der Phan-
tasie selbst auf diesen geschichtlichen Grundlagen, die "empfindsam gereizte,
gewaltsam schwülstige, subjectiv willkürliche" Stimmung der Italiener zur
Zeit des restaurirten Katholizismus (§. 473), die völlige Ausbildung dieser
Geistesform zur Effecthaschenden Selbstbespieglung und frivol galanten
Süßigkeit, wie sie in Frankreich vollendet wird (§. 476) und auch mit
der Sentimentalität, die übrigens in Deutschland in tieferer Bedeutung
reagirend auftritt (§. 477), sich verbindet: diese Stimmungen reißen
denn nothwendig die Bildnerkunst aus allem Gleichgewicht heraus. Frühe
schon gibt in Italien ein Donatello den gereinigten Formen etwas von
dem leidenschaftlichen Wurf, welchen dann M. Angelo zu jener Ueber-
kraft, jener feurig bewegten "Hinwendung nach etwas außen Liegendem"
(vergl. Burkhardt a. a. O.) steigert, die bei ihm selbst noch so genial
groß ist, durch die Genialität ihre Verletzung des plastischen Styls recht-
fertigt, aber unnachahmlich doch zur Nachahmung reizt und die Manier
einleitet. Das Malerische ist also jetzt in einer neuen Bedeutung eingedrun-
gen: neben erworbener Kenntniß der plastischen Form-Schönheit beherrscht
es nicht mehr blos die Composition im Relief, sondern als Affect den
Ausdruck und die Bewegung. Es ist darin ein so bewußtes Wirken auf
Eindruck, daß man diese Erregtheit auch eine dramatische nennen kann,
und an die Poesie ist man überdieß dadurch erinnert, daß diese Plastik
namentlich decorativ auftritt; d. h. sie folgt nicht mehr dem Zuge der Ar-
chitektur im Großen und Ganzen, diese ist ja jetzt nicht mehr die gothische,
aber sie schmückt mit sinnreichen Anordnungen, Reliefs, zahlreicher Sta-
tuetten einzelne Theile derselben, insbesondere Grabmäler im Innern, und
sucht darin eine cyklisch beziehungsreiche Einheit von wirklichen Darstel-
lungen und allegorischen Beziehungen; dieß ist nicht mehr ornamentistisch,
sondern eine freie, planmäßig überlegte Anordnung, wobei der Bildhauer

frage, die mit ihr gegeben iſt, zurückkommen. In der ſpäteren Renaiſ-
ſance fehlt es nicht an Werken, die in dieſer Richtung liegen, energiſchen
Ritter- und Landsknechtgeſtalten als Wappenhalter, Ehren- und Grab-
Monumente, ſelbſt der Rokoko hat noch ſchöne hiſtoriſche Büſten; allein
es bemächtigt ſich der ganzen plaſtiſchen Kunſtrichtung zunächſt ein an-
derer Zug.

2. Man blicke zurück auf die geſchichtlichen Formen des ausgehen-
den Mittelalters §. 362 ff., dann der erſten Geſtaltungen der neuen Zeit
§. 366 ff., die Entfeßlung des Individuellen, Subjectiven, die Jagd
wilder Leidenſchaften, welche darauf folgt, die geſchweiften, luftigen, be-
wegten Culturformen neben der noch nicht aufgegebenen hartſchaaligen
Ritterrüſtung; ſpäter, nachdem die centraliſirende Monarchie ihren mo-
dernen Thron in Frankreich aufgerichtet, den Sinnenkitzel der eiteln Auf-
klärung mit ſeinen Formen; man vergleiche dann die Geſtaltung der Phan-
taſie ſelbſt auf dieſen geſchichtlichen Grundlagen, die „empfindſam gereizte,
gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkürliche“ Stimmung der Italiener zur
Zeit des reſtaurirten Katholizismus (§. 473), die völlige Ausbildung dieſer
Geiſtesform zur Effecthaſchenden Selbſtbeſpieglung und frivol galanten
Süßigkeit, wie ſie in Frankreich vollendet wird (§. 476) und auch mit
der Sentimentalität, die übrigens in Deutſchland in tieferer Bedeutung
reagirend auftritt (§. 477), ſich verbindet: dieſe Stimmungen reißen
denn nothwendig die Bildnerkunſt aus allem Gleichgewicht heraus. Frühe
ſchon gibt in Italien ein Donatello den gereinigten Formen etwas von
dem leidenſchaftlichen Wurf, welchen dann M. Angelo zu jener Ueber-
kraft, jener feurig bewegten „Hinwendung nach etwas außen Liegendem“
(vergl. Burkhardt a. a. O.) ſteigert, die bei ihm ſelbſt noch ſo genial
groß iſt, durch die Genialität ihre Verletzung des plaſtiſchen Styls recht-
fertigt, aber unnachahmlich doch zur Nachahmung reizt und die Manier
einleitet. Das Maleriſche iſt alſo jetzt in einer neuen Bedeutung eingedrun-
gen: neben erworbener Kenntniß der plaſtiſchen Form-Schönheit beherrſcht
es nicht mehr blos die Compoſition im Relief, ſondern als Affect den
Ausdruck und die Bewegung. Es iſt darin ein ſo bewußtes Wirken auf
Eindruck, daß man dieſe Erregtheit auch eine dramatiſche nennen kann,
und an die Poeſie iſt man überdieß dadurch erinnert, daß dieſe Plaſtik
namentlich decorativ auftritt; d. h. ſie folgt nicht mehr dem Zuge der Ar-
chitektur im Großen und Ganzen, dieſe iſt ja jetzt nicht mehr die gothiſche,
aber ſie ſchmückt mit ſinnreichen Anordnungen, Reliefs, zahlreicher Sta-
tuetten einzelne Theile derſelben, insbeſondere Grabmäler im Innern, und
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lungen und allegoriſchen Beziehungen; dieß iſt nicht mehr ornamentiſtiſch,
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[492/0166] frage, die mit ihr gegeben iſt, zurückkommen. In der ſpäteren Renaiſ- ſance fehlt es nicht an Werken, die in dieſer Richtung liegen, energiſchen Ritter- und Landsknechtgeſtalten als Wappenhalter, Ehren- und Grab- Monumente, ſelbſt der Rokoko hat noch ſchöne hiſtoriſche Büſten; allein es bemächtigt ſich der ganzen plaſtiſchen Kunſtrichtung zunächſt ein an- derer Zug. 2. Man blicke zurück auf die geſchichtlichen Formen des ausgehen- den Mittelalters §. 362 ff., dann der erſten Geſtaltungen der neuen Zeit §. 366 ff., die Entfeßlung des Individuellen, Subjectiven, die Jagd wilder Leidenſchaften, welche darauf folgt, die geſchweiften, luftigen, be- wegten Culturformen neben der noch nicht aufgegebenen hartſchaaligen Ritterrüſtung; ſpäter, nachdem die centraliſirende Monarchie ihren mo- dernen Thron in Frankreich aufgerichtet, den Sinnenkitzel der eiteln Auf- klärung mit ſeinen Formen; man vergleiche dann die Geſtaltung der Phan- taſie ſelbſt auf dieſen geſchichtlichen Grundlagen, die „empfindſam gereizte, gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkürliche“ Stimmung der Italiener zur Zeit des reſtaurirten Katholizismus (§. 473), die völlige Ausbildung dieſer Geiſtesform zur Effecthaſchenden Selbſtbeſpieglung und frivol galanten Süßigkeit, wie ſie in Frankreich vollendet wird (§. 476) und auch mit der Sentimentalität, die übrigens in Deutſchland in tieferer Bedeutung reagirend auftritt (§. 477), ſich verbindet: dieſe Stimmungen reißen denn nothwendig die Bildnerkunſt aus allem Gleichgewicht heraus. Frühe ſchon gibt in Italien ein Donatello den gereinigten Formen etwas von dem leidenſchaftlichen Wurf, welchen dann M. Angelo zu jener Ueber- kraft, jener feurig bewegten „Hinwendung nach etwas außen Liegendem“ (vergl. Burkhardt a. a. O.) ſteigert, die bei ihm ſelbſt noch ſo genial groß iſt, durch die Genialität ihre Verletzung des plaſtiſchen Styls recht- fertigt, aber unnachahmlich doch zur Nachahmung reizt und die Manier einleitet. Das Maleriſche iſt alſo jetzt in einer neuen Bedeutung eingedrun- gen: neben erworbener Kenntniß der plaſtiſchen Form-Schönheit beherrſcht es nicht mehr blos die Compoſition im Relief, ſondern als Affect den Ausdruck und die Bewegung. Es iſt darin ein ſo bewußtes Wirken auf Eindruck, daß man dieſe Erregtheit auch eine dramatiſche nennen kann, und an die Poeſie iſt man überdieß dadurch erinnert, daß dieſe Plaſtik namentlich decorativ auftritt; d. h. ſie folgt nicht mehr dem Zuge der Ar- chitektur im Großen und Ganzen, dieſe iſt ja jetzt nicht mehr die gothiſche, aber ſie ſchmückt mit ſinnreichen Anordnungen, Reliefs, zahlreicher Sta- tuetten einzelne Theile derſelben, insbeſondere Grabmäler im Innern, und ſucht darin eine cykliſch beziehungsreiche Einheit von wirklichen Darſtel- lungen und allegoriſchen Beziehungen; dieß iſt nicht mehr ornamentiſtiſch, ſondern eine freie, planmäßig überlegte Anordnung, wobei der Bildhauer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/166>, abgerufen am 06.05.2024.