Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.Symbole sind. Da kann sich kein Kreis von Götter-Individuen bilden, Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0144" n="470"/> <hi rendition="#et">Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden,<lb/> die ſich durch Charakter-Ausdruck unterſcheiden und wahrhaft in Hand-<lb/> lung treten. Hiemit iſt von dem erſten Satz in §. 636 Anwendung ge-<lb/> macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können ſich<lb/> nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol-<lb/> gende Beſtimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung<lb/> über die urſprüngliche Stoffwelt als weiteres geſchichtliches Bewegungs-<lb/> Moment einführt, und halte ſie an die orientaliſche Phantaſie, wie die-<lb/> ſelbe von der Abſtraction des Abſoluten ſich mit voller Sinnlichkeit in die<lb/> Welt des Endlichen und Sinnlichen ſtürzt: ſo begreift ſich (vergl. auch<lb/> §. 428), daß neben den unbelebten, ſtarren Götterbildern eine reiche<lb/> Nachbildung des Thieriſchen, allgemein Menſchlichen (Genre) und des<lb/> Geſchichtlichen treten wird. Dieſe iſt es denn, die Alles übernimmt, was<lb/> dem Götterkreis an Individualiſmus und Naturaliſmus abgeht; ſie wird nur<lb/> deſto umfaſſender, deſto porträtſchärfer ſein, je weniger die Fülle der Nai-<lb/> vetät und die Deutlichkeit der Anſchauung ſich in das ideale Göttergebiet<lb/> ergießen kann. Nun ſind die Götter ohne menſchlichen Ausdruck und dem<lb/> Menſchlichen fehlt jener „Abglanz der rein idealen Natur“, den wir wie-<lb/> derholt gefordert haben; jene ſind conventionell, ideal im leblos ſtrengen<lb/> Sinne des Worts, Genre und Hiſtorie aber iſt überraſchend treu, natur-<lb/> wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieſer Stoff ſaugt jenem die Le-<lb/> benswärme, jener dieſem die höhere Seele aus, ohne ſie darum für ſich<lb/> zu gewinnen. Man erkennt alſo bereits eine beſtimmte Weiſe des Ver-<lb/> hältniſſes, in welches jene zwei Beſtimmungen des §. 636, nämlich die<lb/> über den Gegenſatz des Idealiſmus und Naturaliſmus, Individualiſmus<lb/> und die nachher aufgeſtellte über den Umfang der Ergreifung der ur-<lb/> ſprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So ſehen wir denn bei den<lb/> Aſſyrern, Perſern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir<lb/> zunächſt nur das Negative ſagen, daß ihnen außer der Unterſcheidung<lb/> der Geſchlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man<lb/> kaum die Altersſtufen erkennt, daß jede nähere Beſtimmtheit durch das<lb/> Attribut erſetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig<lb/> gleichen Züge belebt, eine reiche Plaſtik, namentlich in Reliefform, ſich<lb/> ausbreiten, welche das thieriſche und das menſchliche Leben in den mannig-<lb/> faltigſten Formen: Geſchäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art,<lb/> Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got-<lb/> tesdienſt mit der friſcheſten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, ſcharfem Auge<lb/> auffaßt, die Phyſiognomien verſchiedener Völker, die Formen der Lebens-<lb/> alter, Geſchlechter ſammt Eunuchen, Luſt und Leiden, die eigenthümliche<lb/> Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch<lb/> ſichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterſcheidet: die Paläſte, Gräber,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [470/0144]
Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden,
die ſich durch Charakter-Ausdruck unterſcheiden und wahrhaft in Hand-
lung treten. Hiemit iſt von dem erſten Satz in §. 636 Anwendung ge-
macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können ſich
nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol-
gende Beſtimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung
über die urſprüngliche Stoffwelt als weiteres geſchichtliches Bewegungs-
Moment einführt, und halte ſie an die orientaliſche Phantaſie, wie die-
ſelbe von der Abſtraction des Abſoluten ſich mit voller Sinnlichkeit in die
Welt des Endlichen und Sinnlichen ſtürzt: ſo begreift ſich (vergl. auch
§. 428), daß neben den unbelebten, ſtarren Götterbildern eine reiche
Nachbildung des Thieriſchen, allgemein Menſchlichen (Genre) und des
Geſchichtlichen treten wird. Dieſe iſt es denn, die Alles übernimmt, was
dem Götterkreis an Individualiſmus und Naturaliſmus abgeht; ſie wird nur
deſto umfaſſender, deſto porträtſchärfer ſein, je weniger die Fülle der Nai-
vetät und die Deutlichkeit der Anſchauung ſich in das ideale Göttergebiet
ergießen kann. Nun ſind die Götter ohne menſchlichen Ausdruck und dem
Menſchlichen fehlt jener „Abglanz der rein idealen Natur“, den wir wie-
derholt gefordert haben; jene ſind conventionell, ideal im leblos ſtrengen
Sinne des Worts, Genre und Hiſtorie aber iſt überraſchend treu, natur-
wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieſer Stoff ſaugt jenem die Le-
benswärme, jener dieſem die höhere Seele aus, ohne ſie darum für ſich
zu gewinnen. Man erkennt alſo bereits eine beſtimmte Weiſe des Ver-
hältniſſes, in welches jene zwei Beſtimmungen des §. 636, nämlich die
über den Gegenſatz des Idealiſmus und Naturaliſmus, Individualiſmus
und die nachher aufgeſtellte über den Umfang der Ergreifung der ur-
ſprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So ſehen wir denn bei den
Aſſyrern, Perſern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir
zunächſt nur das Negative ſagen, daß ihnen außer der Unterſcheidung
der Geſchlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man
kaum die Altersſtufen erkennt, daß jede nähere Beſtimmtheit durch das
Attribut erſetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig
gleichen Züge belebt, eine reiche Plaſtik, namentlich in Reliefform, ſich
ausbreiten, welche das thieriſche und das menſchliche Leben in den mannig-
faltigſten Formen: Geſchäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art,
Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got-
tesdienſt mit der friſcheſten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, ſcharfem Auge
auffaßt, die Phyſiognomien verſchiedener Völker, die Formen der Lebens-
alter, Geſchlechter ſammt Eunuchen, Luſt und Leiden, die eigenthümliche
Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch
ſichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterſcheidet: die Paläſte, Gräber,
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