Symbole sind. Da kann sich kein Kreis von Götter-Individuen bilden, die sich durch Charakter-Ausdruck unterscheiden und wahrhaft in Hand- lung treten. Hiemit ist von dem ersten Satz in §. 636 Anwendung ge- macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können sich nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol- gende Bestimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung über die ursprüngliche Stoffwelt als weiteres geschichtliches Bewegungs- Moment einführt, und halte sie an die orientalische Phantasie, wie die- selbe von der Abstraction des Absoluten sich mit voller Sinnlichkeit in die Welt des Endlichen und Sinnlichen stürzt: so begreift sich (vergl. auch §. 428), daß neben den unbelebten, starren Götterbildern eine reiche Nachbildung des Thierischen, allgemein Menschlichen (Genre) und des Geschichtlichen treten wird. Diese ist es denn, die Alles übernimmt, was dem Götterkreis an Individualismus und Naturalismus abgeht; sie wird nur desto umfassender, desto porträtschärfer sein, je weniger die Fülle der Nai- vetät und die Deutlichkeit der Anschauung sich in das ideale Göttergebiet ergießen kann. Nun sind die Götter ohne menschlichen Ausdruck und dem Menschlichen fehlt jener "Abglanz der rein idealen Natur", den wir wie- derholt gefordert haben; jene sind conventionell, ideal im leblos strengen Sinne des Worts, Genre und Historie aber ist überraschend treu, natur- wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieser Stoff saugt jenem die Le- benswärme, jener diesem die höhere Seele aus, ohne sie darum für sich zu gewinnen. Man erkennt also bereits eine bestimmte Weise des Ver- hältnisses, in welches jene zwei Bestimmungen des §. 636, nämlich die über den Gegensatz des Idealismus und Naturalismus, Individualismus und die nachher aufgestellte über den Umfang der Ergreifung der ur- sprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So sehen wir denn bei den Assyrern, Persern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir zunächst nur das Negative sagen, daß ihnen außer der Unterscheidung der Geschlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man kaum die Altersstufen erkennt, daß jede nähere Bestimmtheit durch das Attribut ersetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig gleichen Züge belebt, eine reiche Plastik, namentlich in Reliefform, sich ausbreiten, welche das thierische und das menschliche Leben in den mannig- faltigsten Formen: Geschäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art, Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got- tesdienst mit der frischesten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, scharfem Auge auffaßt, die Physiognomien verschiedener Völker, die Formen der Lebens- alter, Geschlechter sammt Eunuchen, Lust und Leiden, die eigenthümliche Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch sichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterscheidet: die Paläste, Gräber,
Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden, die ſich durch Charakter-Ausdruck unterſcheiden und wahrhaft in Hand- lung treten. Hiemit iſt von dem erſten Satz in §. 636 Anwendung ge- macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können ſich nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol- gende Beſtimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung über die urſprüngliche Stoffwelt als weiteres geſchichtliches Bewegungs- Moment einführt, und halte ſie an die orientaliſche Phantaſie, wie die- ſelbe von der Abſtraction des Abſoluten ſich mit voller Sinnlichkeit in die Welt des Endlichen und Sinnlichen ſtürzt: ſo begreift ſich (vergl. auch §. 428), daß neben den unbelebten, ſtarren Götterbildern eine reiche Nachbildung des Thieriſchen, allgemein Menſchlichen (Genre) und des Geſchichtlichen treten wird. Dieſe iſt es denn, die Alles übernimmt, was dem Götterkreis an Individualiſmus und Naturaliſmus abgeht; ſie wird nur deſto umfaſſender, deſto porträtſchärfer ſein, je weniger die Fülle der Nai- vetät und die Deutlichkeit der Anſchauung ſich in das ideale Göttergebiet ergießen kann. Nun ſind die Götter ohne menſchlichen Ausdruck und dem Menſchlichen fehlt jener „Abglanz der rein idealen Natur“, den wir wie- derholt gefordert haben; jene ſind conventionell, ideal im leblos ſtrengen Sinne des Worts, Genre und Hiſtorie aber iſt überraſchend treu, natur- wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieſer Stoff ſaugt jenem die Le- benswärme, jener dieſem die höhere Seele aus, ohne ſie darum für ſich zu gewinnen. Man erkennt alſo bereits eine beſtimmte Weiſe des Ver- hältniſſes, in welches jene zwei Beſtimmungen des §. 636, nämlich die über den Gegenſatz des Idealiſmus und Naturaliſmus, Individualiſmus und die nachher aufgeſtellte über den Umfang der Ergreifung der ur- ſprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So ſehen wir denn bei den Aſſyrern, Perſern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir zunächſt nur das Negative ſagen, daß ihnen außer der Unterſcheidung der Geſchlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man kaum die Altersſtufen erkennt, daß jede nähere Beſtimmtheit durch das Attribut erſetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig gleichen Züge belebt, eine reiche Plaſtik, namentlich in Reliefform, ſich ausbreiten, welche das thieriſche und das menſchliche Leben in den mannig- faltigſten Formen: Geſchäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art, Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got- tesdienſt mit der friſcheſten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, ſcharfem Auge auffaßt, die Phyſiognomien verſchiedener Völker, die Formen der Lebens- alter, Geſchlechter ſammt Eunuchen, Luſt und Leiden, die eigenthümliche Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch ſichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterſcheidet: die Paläſte, Gräber,
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Symbole ſind. Da kann ſich kein Kreis von Götter-Individuen bilden,
die ſich durch Charakter-Ausdruck unterſcheiden und wahrhaft in Hand-
lung treten. Hiemit iſt von dem erſten Satz in §. 636 Anwendung ge-
macht: das direct Ideale und das Individuelle, Naturwahre können ſich
nicht zur Schönheit durchdringen. Nun nehme man die weiter unten fol-
gende Beſtimmung des §. 636 herauf, welche den Grad der Ausdehnung
über die urſprüngliche Stoffwelt als weiteres geſchichtliches Bewegungs-
Moment einführt, und halte ſie an die orientaliſche Phantaſie, wie die-
ſelbe von der Abſtraction des Abſoluten ſich mit voller Sinnlichkeit in die
Welt des Endlichen und Sinnlichen ſtürzt: ſo begreift ſich (vergl. auch
§. 428), daß neben den unbelebten, ſtarren Götterbildern eine reiche
Nachbildung des Thieriſchen, allgemein Menſchlichen (Genre) und des
Geſchichtlichen treten wird. Dieſe iſt es denn, die Alles übernimmt, was
dem Götterkreis an Individualiſmus und Naturaliſmus abgeht; ſie wird nur
deſto umfaſſender, deſto porträtſchärfer ſein, je weniger die Fülle der Nai-
vetät und die Deutlichkeit der Anſchauung ſich in das ideale Göttergebiet
ergießen kann. Nun ſind die Götter ohne menſchlichen Ausdruck und dem
Menſchlichen fehlt jener „Abglanz der rein idealen Natur“, den wir wie-
derholt gefordert haben; jene ſind conventionell, ideal im leblos ſtrengen
Sinne des Worts, Genre und Hiſtorie aber iſt überraſchend treu, natur-
wahr, bewegt, lebendig ohne Idealität; dieſer Stoff ſaugt jenem die Le-
benswärme, jener dieſem die höhere Seele aus, ohne ſie darum für ſich
zu gewinnen. Man erkennt alſo bereits eine beſtimmte Weiſe des Ver-
hältniſſes, in welches jene zwei Beſtimmungen des §. 636, nämlich die
über den Gegenſatz des Idealiſmus und Naturaliſmus, Individualiſmus
und die nachher aufgeſtellte über den Umfang der Ergreifung der ur-
ſprünglichen Stoffwelt, zu einander treten. So ſehen wir denn bei den
Aſſyrern, Perſern, Aegyptern neben Götterbildern, von denen wir
zunächſt nur das Negative ſagen, daß ihnen außer der Unterſcheidung
der Geſchlechter jede Mannigfaltigkeit der Lebensformen abgeht, daß man
kaum die Altersſtufen erkennt, daß jede nähere Beſtimmtheit durch das
Attribut erſetzt wird, daß keine fühlende Seele ihre unbewegten, ewig
gleichen Züge belebt, eine reiche Plaſtik, namentlich in Reliefform, ſich
ausbreiten, welche das thieriſche und das menſchliche Leben in den mannig-
faltigſten Formen: Geſchäfte des Landbaus, Gewerbes, Spiel aller Art,
Jagd, Krieg, Rechtspflege, Triumphzug, Anbetung des Königs, Got-
tesdienſt mit der friſcheſten Naivetät, Lebendigkeit, Feuer, ſcharfem Auge
auffaßt, die Phyſiognomien verſchiedener Völker, die Formen der Lebens-
alter, Geſchlechter ſammt Eunuchen, Luſt und Leiden, die eigenthümliche
Körperbewegung in allem Thun, ja Individuum von Individuum durch
ſichtliche Porträtzeichnung kenntlich unterſcheidet: die Paläſte, Gräber,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/144>, abgerufen am 07.07.2024.
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