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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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reinen Menschenbild abweicht, und auf entstellende Culturformen, wie
wir solche zuletzt bei der Kleidung kennen gelernt haben; ferner hatte
dieser erste Ueberblick dort den Zweck, sogleich das Individuelle und die
mancherlei Einzelformen, in die sich der Naturalismus in weiterem Um-
fang einläßt, heraufzunehmen und die Schmalheit des Spielraums, in
welchem diese Richtungen sich bewegen, als wesentliche Bestimmung des
allgemeinen Stylgesetzes auszusprechen. Nunmehr ist aber diese reiche
Welt, soweit sie nicht dort bereits zur Sprache gekommen, es sind nament-
lich die anthropologischen, die in der Sitte, Beschäftigung begründeten
Unterschiede, wie sie sich im Körper ausprägen, ausdrücklich zu betrachten
und die Grenze genauer zu bezeichnen. Wir haben also vor uns die
verschiedenen anthropologischen Zustände: Wachen, Schlaf, Krankheit,
Tod; die Altersstufen, den Unterschied der Geschlechter, der Beschäftigun-
gen, wie er auch bei vorausgesetzter glücklicher Culturform besteht, worüber
durchaus Th. II, C. a. zu vergleichen ist, nur mit dem Vorbehalt, daß
wir das tiefere Psychologische, also die Affecte, die sittlichen Motive im
Familienleben, den Charakter, wie er sich im Staatsleben und der Welt
geistiger Bildung entwickelt, hier vorerst noch bei Seite lassen, weil wir
Alles noch unter dem Standpuncte der Ausprägung an der Gestalt als
solcher betrachten und von den Momenten besonderer Bewegung noch ab-
sehen (§. 615). -- Es hat keinen Sinn, an eine Schönheit in abstracto
zu denken; es ist Mann, Weib, Kind, Jüngling, Jäger, Hirte,
Schiffer, Krieger u. s. w., was dargestellt wird, und die Götter selbst sind
geschlechtlich, haben Schicksale, sind Hüter und Schirmherren eines beson-
deren Kreises, der ihnen ihr Gepräge mittheilt. Es folgt nun klar aus
Geist und Stylgesetz der Plastik, daß das Verschwommene und zugleich
dürftig Dürre der ersten Kindheit, daß entstellende Krankheit und die
runzliche Gebrechlichkeit des hohen Alters, der Leichnam im Auflösungs-
prozeß, daß eine durch Armuth und Hunger, durch Sitzen und Hocken,
durch allzurauhe Arbeit gedrückte Erscheinung aus den Stoffen der Plastik
wegfällt. Wo die Linie liegt, ist natürlich im Gebiete der Allgemeinheit
nicht bei Zoll und Schuh zu bemessen. Der griechische Bildner wagte
einen im vergifteten Gewande qualvoll leidenden Herkules, einen Phi-
loktet, aber da konnte der Heldenleib doch noch in unzerrissener Formen-
fülle dargestellt werden; der Leichnam ist noch schön, so lange der letzte
Strahl der Lebenssonne auf ihm ruht und seine Züge erzählen, was er
gethan und gelitten, wenige Stunden nachher wird er todter Stoff und
plastisch unauflösbare Häßlichkeit. Betrachten wir aber dieses also be-
grenzte Gebiet der Mannigfaltigkeit nach seinem positiven Inhalt, so
breitet sich eine Fülle des Schönen wie eine herrliche Gebirgswelt vor
uns aus. Die Lehre vom Naturschönen hat einen Ueberblick gegeben

reinen Menſchenbild abweicht, und auf entſtellende Culturformen, wie
wir ſolche zuletzt bei der Kleidung kennen gelernt haben; ferner hatte
dieſer erſte Ueberblick dort den Zweck, ſogleich das Individuelle und die
mancherlei Einzelformen, in die ſich der Naturaliſmus in weiterem Um-
fang einläßt, heraufzunehmen und die Schmalheit des Spielraums, in
welchem dieſe Richtungen ſich bewegen, als weſentliche Beſtimmung des
allgemeinen Stylgeſetzes auszuſprechen. Nunmehr iſt aber dieſe reiche
Welt, ſoweit ſie nicht dort bereits zur Sprache gekommen, es ſind nament-
lich die anthropologiſchen, die in der Sitte, Beſchäftigung begründeten
Unterſchiede, wie ſie ſich im Körper ausprägen, ausdrücklich zu betrachten
und die Grenze genauer zu bezeichnen. Wir haben alſo vor uns die
verſchiedenen anthropologiſchen Zuſtände: Wachen, Schlaf, Krankheit,
Tod; die Altersſtufen, den Unterſchied der Geſchlechter, der Beſchäftigun-
gen, wie er auch bei vorausgeſetzter glücklicher Culturform beſteht, worüber
durchaus Th. II, C. a. zu vergleichen iſt, nur mit dem Vorbehalt, daß
wir das tiefere Pſychologiſche, alſo die Affecte, die ſittlichen Motive im
Familienleben, den Charakter, wie er ſich im Staatsleben und der Welt
geiſtiger Bildung entwickelt, hier vorerſt noch bei Seite laſſen, weil wir
Alles noch unter dem Standpuncte der Ausprägung an der Geſtalt als
ſolcher betrachten und von den Momenten beſonderer Bewegung noch ab-
ſehen (§. 615). — Es hat keinen Sinn, an eine Schönheit in abstracto
zu denken; es iſt Mann, Weib, Kind, Jüngling, Jäger, Hirte,
Schiffer, Krieger u. ſ. w., was dargeſtellt wird, und die Götter ſelbſt ſind
geſchlechtlich, haben Schickſale, ſind Hüter und Schirmherren eines beſon-
deren Kreiſes, der ihnen ihr Gepräge mittheilt. Es folgt nun klar aus
Geiſt und Stylgeſetz der Plaſtik, daß das Verſchwommene und zugleich
dürftig Dürre der erſten Kindheit, daß entſtellende Krankheit und die
runzliche Gebrechlichkeit des hohen Alters, der Leichnam im Auflöſungs-
prozeß, daß eine durch Armuth und Hunger, durch Sitzen und Hocken,
durch allzurauhe Arbeit gedrückte Erſcheinung aus den Stoffen der Plaſtik
wegfällt. Wo die Linie liegt, iſt natürlich im Gebiete der Allgemeinheit
nicht bei Zoll und Schuh zu bemeſſen. Der griechiſche Bildner wagte
einen im vergifteten Gewande qualvoll leidenden Herkules, einen Phi-
loktet, aber da konnte der Heldenleib doch noch in unzerriſſener Formen-
fülle dargeſtellt werden; der Leichnam iſt noch ſchön, ſo lange der letzte
Strahl der Lebensſonne auf ihm ruht und ſeine Züge erzählen, was er
gethan und gelitten, wenige Stunden nachher wird er todter Stoff und
plaſtiſch unauflösbare Häßlichkeit. Betrachten wir aber dieſes alſo be-
grenzte Gebiet der Mannigfaltigkeit nach ſeinem poſitiven Inhalt, ſo
breitet ſich eine Fülle des Schönen wie eine herrliche Gebirgswelt vor
uns aus. Die Lehre vom Naturſchönen hat einen Ueberblick gegeben

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[426/0100] reinen Menſchenbild abweicht, und auf entſtellende Culturformen, wie wir ſolche zuletzt bei der Kleidung kennen gelernt haben; ferner hatte dieſer erſte Ueberblick dort den Zweck, ſogleich das Individuelle und die mancherlei Einzelformen, in die ſich der Naturaliſmus in weiterem Um- fang einläßt, heraufzunehmen und die Schmalheit des Spielraums, in welchem dieſe Richtungen ſich bewegen, als weſentliche Beſtimmung des allgemeinen Stylgeſetzes auszuſprechen. Nunmehr iſt aber dieſe reiche Welt, ſoweit ſie nicht dort bereits zur Sprache gekommen, es ſind nament- lich die anthropologiſchen, die in der Sitte, Beſchäftigung begründeten Unterſchiede, wie ſie ſich im Körper ausprägen, ausdrücklich zu betrachten und die Grenze genauer zu bezeichnen. Wir haben alſo vor uns die verſchiedenen anthropologiſchen Zuſtände: Wachen, Schlaf, Krankheit, Tod; die Altersſtufen, den Unterſchied der Geſchlechter, der Beſchäftigun- gen, wie er auch bei vorausgeſetzter glücklicher Culturform beſteht, worüber durchaus Th. II, C. a. zu vergleichen iſt, nur mit dem Vorbehalt, daß wir das tiefere Pſychologiſche, alſo die Affecte, die ſittlichen Motive im Familienleben, den Charakter, wie er ſich im Staatsleben und der Welt geiſtiger Bildung entwickelt, hier vorerſt noch bei Seite laſſen, weil wir Alles noch unter dem Standpuncte der Ausprägung an der Geſtalt als ſolcher betrachten und von den Momenten beſonderer Bewegung noch ab- ſehen (§. 615). — Es hat keinen Sinn, an eine Schönheit in abstracto zu denken; es iſt Mann, Weib, Kind, Jüngling, Jäger, Hirte, Schiffer, Krieger u. ſ. w., was dargeſtellt wird, und die Götter ſelbſt ſind geſchlechtlich, haben Schickſale, ſind Hüter und Schirmherren eines beſon- deren Kreiſes, der ihnen ihr Gepräge mittheilt. Es folgt nun klar aus Geiſt und Stylgeſetz der Plaſtik, daß das Verſchwommene und zugleich dürftig Dürre der erſten Kindheit, daß entſtellende Krankheit und die runzliche Gebrechlichkeit des hohen Alters, der Leichnam im Auflöſungs- prozeß, daß eine durch Armuth und Hunger, durch Sitzen und Hocken, durch allzurauhe Arbeit gedrückte Erſcheinung aus den Stoffen der Plaſtik wegfällt. Wo die Linie liegt, iſt natürlich im Gebiete der Allgemeinheit nicht bei Zoll und Schuh zu bemeſſen. Der griechiſche Bildner wagte einen im vergifteten Gewande qualvoll leidenden Herkules, einen Phi- loktet, aber da konnte der Heldenleib doch noch in unzerriſſener Formen- fülle dargeſtellt werden; der Leichnam iſt noch ſchön, ſo lange der letzte Strahl der Lebensſonne auf ihm ruht und ſeine Züge erzählen, was er gethan und gelitten, wenige Stunden nachher wird er todter Stoff und plaſtiſch unauflösbare Häßlichkeit. Betrachten wir aber dieſes alſo be- grenzte Gebiet der Mannigfaltigkeit nach ſeinem poſitiven Inhalt, ſo breitet ſich eine Fülle des Schönen wie eine herrliche Gebirgswelt vor uns aus. Die Lehre vom Naturſchönen hat einen Ueberblick gegeben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/100>, abgerufen am 24.11.2024.