nicht von einem Nachbilden, sondern von einem Zusammentreffen zu sprechen, wie wir denn bei dem gothischen Ornamente sehen werden, daß der messende Künstlergeist von seinem eigenen Gesetz auf dieselben Blatt- stellungen geführt wurde, wie der Naturgeist in seinem unbewußten Schaffen in der Pflanzenbildung. Aber selbst in der freigebildeten Karya- tide ist, freilich in höherer Verklärung, noch die Strenge architektonischen Styls; jene Jungfrauen des Erechtheums tragen frei, sie wollen tragen und eben in diesem Willen hält sich die Gestalt streng und gemessen zu- sammen, der Druck der Last, wie er durch die ideale Säulenachse in diesen schönen weiblichen Körpern hinabgeht, ist von ihnen energisch aufgefangen und in eine muskelkräftige Gegenstemmung verwandelt. -- Aber auch in die Malerei blüht die Baukunft, ebenfalls ab- gesehen von den eigentlichen Anlehnungen, hinüber. Hier stehen wir vor der schwierigen Frage der Polychromie der Baukunst. Da das Classische ein Mustergültiges ist, so ist diese Frage als eine historische aufgetreten. Seitdem aber Hittorf in seinem Werke: Restitution du temple d'Em- pedocle a Sclinunte ou l'architecture polychrome chez les Grecs (Paris 1851) mit einer Fülle von Gründen gezeigt hat, daß der griechische Tempel durchaus bemalt war, muß man, da ein so weit gehender Farben- schmuck selbst durch die Autorität der Griechen nicht zum unbezweifelten Dogma werden kann, zunächst vom Historischen wieder absehen und rein objectiv prüfen, ob und wieweit Polychromie der Architektur dem Schön- heitsgesetze entspreche, und je nachdem das Urtheil ausfällt, die Griechen entweder auch darin anerkennen oder ihr Gefühl verwerfen, oder endlich einen dritten Weg suchen, den wir im Weitern bezeichnen werden. Keine Kunst ist sosehr auf die reine Form im Sinne des Räumlichen gestellt, wie die Architektur. Die Farbe spricht (vergl. §. 247) die innerste Qua- lität der Dinge als eine gährende, lebendig webende, mischende aus; sie hat dadurch eine Wärme, einen Stimmungs-Ausdruck, welcher einer Kunst der kalten, reinen Messung widersprechend, zu subjectiv für diese Anwen- dung scheint. Allein wir haben auch von einem statischen Leben, von einem Organismus, von einem Aufthauen gefrorner Linien in der Phan- tasie des Zuschauers, von einem Ausblühen des Gefühls im Ornamente, welches der Wahrheit, daß hier die Grundlage aller Lebensformen das bildende Gesetz ist, auch durch Nachahmung der vollen individuellen Ge- stalt den lebendigeren Ausdruck gebe, gesprochen und wir fassen dieß Alles dahin zusammen, daß diese am strengsten objective Kunst, gerade weil sie so sehr objectiv ist, daß sie nur in der Allgemeinheit des Rhythmus bloßer Verhältnisse und Linien sprechen kann, ganz besonders eine Kunst der bloßen Stimmung und in diesem Sinne höchst subjectiv ist. Diese Stimmung darf und soll sich denn auch in der Farbe aussprechen: als
nicht von einem Nachbilden, ſondern von einem Zuſammentreffen zu ſprechen, wie wir denn bei dem gothiſchen Ornamente ſehen werden, daß der meſſende Künſtlergeiſt von ſeinem eigenen Geſetz auf dieſelben Blatt- ſtellungen geführt wurde, wie der Naturgeiſt in ſeinem unbewußten Schaffen in der Pflanzenbildung. Aber ſelbſt in der freigebildeten Karya- tide iſt, freilich in höherer Verklärung, noch die Strenge architektoniſchen Styls; jene Jungfrauen des Erechtheums tragen frei, ſie wollen tragen und eben in dieſem Willen hält ſich die Geſtalt ſtreng und gemeſſen zu- ſammen, der Druck der Laſt, wie er durch die ideale Säulenachſe in dieſen ſchönen weiblichen Körpern hinabgeht, iſt von ihnen energiſch aufgefangen und in eine muskelkräftige Gegenſtemmung verwandelt. — Aber auch in die Malerei blüht die Baukunft, ebenfalls ab- geſehen von den eigentlichen Anlehnungen, hinüber. Hier ſtehen wir vor der ſchwierigen Frage der Polychromie der Baukunſt. Da das Claſſiſche ein Muſtergültiges iſt, ſo iſt dieſe Frage als eine hiſtoriſche aufgetreten. Seitdem aber Hittorf in ſeinem Werke: Restitution du temple d’Em- pedocle à Sclinunte ou l’architecture polychrôme chez les Grecs (Paris 1851) mit einer Fülle von Gründen gezeigt hat, daß der griechiſche Tempel durchaus bemalt war, muß man, da ein ſo weit gehender Farben- ſchmuck ſelbſt durch die Autorität der Griechen nicht zum unbezweifelten Dogma werden kann, zunächſt vom Hiſtoriſchen wieder abſehen und rein objectiv prüfen, ob und wieweit Polychromie der Architektur dem Schön- heitsgeſetze entſpreche, und je nachdem das Urtheil ausfällt, die Griechen entweder auch darin anerkennen oder ihr Gefühl verwerfen, oder endlich einen dritten Weg ſuchen, den wir im Weitern bezeichnen werden. Keine Kunſt iſt ſoſehr auf die reine Form im Sinne des Räumlichen geſtellt, wie die Architektur. Die Farbe ſpricht (vergl. §. 247) die innerſte Qua- lität der Dinge als eine gährende, lebendig webende, miſchende aus; ſie hat dadurch eine Wärme, einen Stimmungs-Ausdruck, welcher einer Kunſt der kalten, reinen Meſſung widerſprechend, zu ſubjectiv für dieſe Anwen- dung ſcheint. Allein wir haben auch von einem ſtatiſchen Leben, von einem Organismus, von einem Aufthauen gefrorner Linien in der Phan- taſie des Zuſchauers, von einem Ausblühen des Gefühls im Ornamente, welches der Wahrheit, daß hier die Grundlage aller Lebensformen das bildende Geſetz iſt, auch durch Nachahmung der vollen individuellen Ge- ſtalt den lebendigeren Ausdruck gebe, geſprochen und wir faſſen dieß Alles dahin zuſammen, daß dieſe am ſtrengſten objective Kunſt, gerade weil ſie ſo ſehr objectiv iſt, daß ſie nur in der Allgemeinheit des Rhythmus bloßer Verhältniſſe und Linien ſprechen kann, ganz beſonders eine Kunſt der bloßen Stimmung und in dieſem Sinne höchſt ſubjectiv iſt. Dieſe Stimmung darf und ſoll ſich denn auch in der Farbe ausſprechen: als
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[248/0088]
nicht von einem Nachbilden, ſondern von einem Zuſammentreffen zu
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der meſſende Künſtlergeiſt von ſeinem eigenen Geſetz auf dieſelben Blatt-
ſtellungen geführt wurde, wie der Naturgeiſt in ſeinem unbewußten
Schaffen in der Pflanzenbildung. Aber ſelbſt in der freigebildeten Karya-
tide iſt, freilich in höherer Verklärung, noch die Strenge architektoniſchen
Styls; jene Jungfrauen des Erechtheums tragen frei, ſie wollen tragen
und eben in dieſem Willen hält ſich die Geſtalt ſtreng und gemeſſen zu-
ſammen, der Druck der Laſt, wie er durch die ideale Säulenachſe
in dieſen ſchönen weiblichen Körpern hinabgeht, iſt von ihnen energiſch
aufgefangen und in eine muskelkräftige Gegenſtemmung verwandelt. —
Aber auch in die Malerei blüht die Baukunft, ebenfalls ab-
geſehen von den eigentlichen Anlehnungen, hinüber. Hier ſtehen wir vor
der ſchwierigen Frage der Polychromie der Baukunſt. Da das Claſſiſche
ein Muſtergültiges iſt, ſo iſt dieſe Frage als eine hiſtoriſche aufgetreten.
Seitdem aber Hittorf in ſeinem Werke: Restitution du temple d’Em-
pedocle à Sclinunte ou l’architecture polychrôme chez les Grecs
(Paris 1851) mit einer Fülle von Gründen gezeigt hat, daß der griechiſche
Tempel durchaus bemalt war, muß man, da ein ſo weit gehender Farben-
ſchmuck ſelbſt durch die Autorität der Griechen nicht zum unbezweifelten
Dogma werden kann, zunächſt vom Hiſtoriſchen wieder abſehen und rein
objectiv prüfen, ob und wieweit Polychromie der Architektur dem Schön-
heitsgeſetze entſpreche, und je nachdem das Urtheil ausfällt, die Griechen
entweder auch darin anerkennen oder ihr Gefühl verwerfen, oder endlich
einen dritten Weg ſuchen, den wir im Weitern bezeichnen werden. Keine
Kunſt iſt ſoſehr auf die reine Form im Sinne des Räumlichen geſtellt,
wie die Architektur. Die Farbe ſpricht (vergl. §. 247) die innerſte Qua-
lität der Dinge als eine gährende, lebendig webende, miſchende aus; ſie
hat dadurch eine Wärme, einen Stimmungs-Ausdruck, welcher einer Kunſt
der kalten, reinen Meſſung widerſprechend, zu ſubjectiv für dieſe Anwen-
dung ſcheint. Allein wir haben auch von einem ſtatiſchen Leben, von
einem Organismus, von einem Aufthauen gefrorner Linien in der Phan-
taſie des Zuſchauers, von einem Ausblühen des Gefühls im Ornamente,
welches der Wahrheit, daß hier die Grundlage aller Lebensformen das
bildende Geſetz iſt, auch durch Nachahmung der vollen individuellen Ge-
ſtalt den lebendigeren Ausdruck gebe, geſprochen und wir faſſen dieß Alles
dahin zuſammen, daß dieſe am ſtrengſten objective Kunſt, gerade weil ſie
ſo ſehr objectiv iſt, daß ſie nur in der Allgemeinheit des Rhythmus bloßer
Verhältniſſe und Linien ſprechen kann, ganz beſonders eine Kunſt der
bloßen Stimmung und in dieſem Sinne höchſt ſubjectiv iſt. Dieſe
Stimmung darf und ſoll ſich denn auch in der Farbe ausſprechen: als
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/88>, abgerufen am 16.02.2025.
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