Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
"Todfeind der geraden Linie", im siebzehnten Jahrhundert aus diesen
„Todfeind der geraden Linie“, im ſiebzehnten Jahrhundert aus dieſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0167" n="327"/> „Todfeind der geraden Linie“, im ſiebzehnten Jahrhundert aus dieſen<lb/> Anſätzen ſich entwickelt, hat die eigentliche Kunſtgeſchichte näher zu ſchil-<lb/> dern; die Aeſthetik begnügt ſich, da ſie nur, wo ein neuer Originalſtyl<lb/> auftritt, tiefer einzugehen hat, mit der Zurückweiſung auf die allgemeinen<lb/> Zuſtände, die ſich in ſolchen Formen culturhiſtoriſch ſpiegeln, ſowie auf<lb/> die geſchichtliche Geſtalt des Geiſtes und der Phantaſie, der ſie entſpre-<lb/> chen. Jene Zuſtände ſind zunächſt bei den Italienern zuerſt die ſchönere<lb/> Humanitäts-Entfaltung des früheren ſechzehnten Jahrhunderts, dann die<lb/> ſeelenloſe Pracht des reſtaurirten, innerlich verwilderten Katholicismus<lb/> §. 366, <hi rendition="#sub">2.</hi>; in der Geſchichte der Phantaſie iſt es die erſte, friſche An-<lb/> eignung des objectiven Ideals des Alterthums §. 467, dann die „empfind-<lb/> ſam gereizte, gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche“ Stimmung, die<lb/> in §. 473 aufgeführt iſt; dieſe kräuſelt den Stein wie Papierſchnitzel, zieht<lb/> ihn in lauter unbeſtimmte, ſchilf- und faſernartige Formen aus, unterbricht<lb/> alles Tragende in ſeiner ſtructiven Grundlinie und verhöhnt ſo mit ſelbſt-<lb/> gefälligem Lächeln das Geſetz der Schwere, wickelt den Thurm in Schnecken-<lb/> linien auf u. ſ. w. Wir haben aber noch nicht das ganze Bild, wenn<lb/> wir dieſe Bauformen nur mit den ſüdlichromaniſchen Zuſtänden zuſammen-<lb/> halten; wir müſſen uns erſt nach dem Norden wenden. Der neuitalie-<lb/> niſche Bauſtyl wandert zunächſt nach Frankreich (Franz <hi rendition="#aq">I.</hi>), dann weiter<lb/> und namentlich nach Deutſchland. Die Reformation konnte keinen neuen<lb/> Bauſtyl ſchaffen, weil ſie keine neue Religion ſchuf; hier wie in Frank-<lb/> reich verbindet ſich nun die Renaiſſance mit den Reſten des Gothiſchen,<lb/> mit dem ſteilen Giebel, den mancherlei Bogenformen, die das Spät-<lb/> gothiſche, zum Theil aus dem mauriſch-Romaniſchen, wieder aufgenommen,<lb/> und dieſe Miſchung iſt es, die als beſonders charakteriſtiſch hervorzuheben<lb/> iſt, denn in ihr ſpiegelt ſich die rauhere, heftigere nordiſche Kraft in ihrer<lb/> unausgeglichenen Verbindung mit dem neuerwachten Humanitätsprinzip<lb/> (§. 470. 471); die gewaltſameren Formen aber, die von M. Angelo aus-<lb/> gehen und den Rokoko einleiten, in dieſen Ländern immer noch mit jenen<lb/> gothiſchen Reſten gemiſcht, charakteriſiren genau jene allgemeine wilde<lb/> Entfeſſelung der Leidenſchaften §. 368. 369 und fallen ganz mit dem<lb/> „Ausgeſchwungenen, Luftigen, Weiten, Bewegten“ der übrigen Culturformen<lb/> (ſ. ebend.) zuſammen. Die Feſtſtellung und Herrſchaft des Rokoko aber,<lb/> woraus nun jene gothiſchen Reſte verſchwunden ſind, als allgemeine, ab-<lb/> ſolute Convenienz fällt zuſammen mit den Zuſtänden der abſoluten fran-<lb/> zöſiſchen Monarchie, der frivolen Aufklärung u. ſ. w. §. 370—373 und<lb/> der entſprechenden geiſtigen, ſog. claſſiſchen Dictatur §. 476. Es bedarf,<lb/> wenn man dieſe §§. vergleicht, weiterer Schilderung nicht. War ſchon<lb/> in der reingothiſchen Baukunſt zu viel maleriſche Empfindungsbewegung,<lb/> wurde in der ſpätgothiſchen durch die Steigerung dieſer Bewegtheit das<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [327/0167]
„Todfeind der geraden Linie“, im ſiebzehnten Jahrhundert aus dieſen
Anſätzen ſich entwickelt, hat die eigentliche Kunſtgeſchichte näher zu ſchil-
dern; die Aeſthetik begnügt ſich, da ſie nur, wo ein neuer Originalſtyl
auftritt, tiefer einzugehen hat, mit der Zurückweiſung auf die allgemeinen
Zuſtände, die ſich in ſolchen Formen culturhiſtoriſch ſpiegeln, ſowie auf
die geſchichtliche Geſtalt des Geiſtes und der Phantaſie, der ſie entſpre-
chen. Jene Zuſtände ſind zunächſt bei den Italienern zuerſt die ſchönere
Humanitäts-Entfaltung des früheren ſechzehnten Jahrhunderts, dann die
ſeelenloſe Pracht des reſtaurirten, innerlich verwilderten Katholicismus
§. 366, 2.; in der Geſchichte der Phantaſie iſt es die erſte, friſche An-
eignung des objectiven Ideals des Alterthums §. 467, dann die „empfind-
ſam gereizte, gewaltſam ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche“ Stimmung, die
in §. 473 aufgeführt iſt; dieſe kräuſelt den Stein wie Papierſchnitzel, zieht
ihn in lauter unbeſtimmte, ſchilf- und faſernartige Formen aus, unterbricht
alles Tragende in ſeiner ſtructiven Grundlinie und verhöhnt ſo mit ſelbſt-
gefälligem Lächeln das Geſetz der Schwere, wickelt den Thurm in Schnecken-
linien auf u. ſ. w. Wir haben aber noch nicht das ganze Bild, wenn
wir dieſe Bauformen nur mit den ſüdlichromaniſchen Zuſtänden zuſammen-
halten; wir müſſen uns erſt nach dem Norden wenden. Der neuitalie-
niſche Bauſtyl wandert zunächſt nach Frankreich (Franz I.), dann weiter
und namentlich nach Deutſchland. Die Reformation konnte keinen neuen
Bauſtyl ſchaffen, weil ſie keine neue Religion ſchuf; hier wie in Frank-
reich verbindet ſich nun die Renaiſſance mit den Reſten des Gothiſchen,
mit dem ſteilen Giebel, den mancherlei Bogenformen, die das Spät-
gothiſche, zum Theil aus dem mauriſch-Romaniſchen, wieder aufgenommen,
und dieſe Miſchung iſt es, die als beſonders charakteriſtiſch hervorzuheben
iſt, denn in ihr ſpiegelt ſich die rauhere, heftigere nordiſche Kraft in ihrer
unausgeglichenen Verbindung mit dem neuerwachten Humanitätsprinzip
(§. 470. 471); die gewaltſameren Formen aber, die von M. Angelo aus-
gehen und den Rokoko einleiten, in dieſen Ländern immer noch mit jenen
gothiſchen Reſten gemiſcht, charakteriſiren genau jene allgemeine wilde
Entfeſſelung der Leidenſchaften §. 368. 369 und fallen ganz mit dem
„Ausgeſchwungenen, Luftigen, Weiten, Bewegten“ der übrigen Culturformen
(ſ. ebend.) zuſammen. Die Feſtſtellung und Herrſchaft des Rokoko aber,
woraus nun jene gothiſchen Reſte verſchwunden ſind, als allgemeine, ab-
ſolute Convenienz fällt zuſammen mit den Zuſtänden der abſoluten fran-
zöſiſchen Monarchie, der frivolen Aufklärung u. ſ. w. §. 370—373 und
der entſprechenden geiſtigen, ſog. claſſiſchen Dictatur §. 476. Es bedarf,
wenn man dieſe §§. vergleicht, weiterer Schilderung nicht. War ſchon
in der reingothiſchen Baukunſt zu viel maleriſche Empfindungsbewegung,
wurde in der ſpätgothiſchen durch die Steigerung dieſer Bewegtheit das
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