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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Form mehr übrig bleibt, und der Pfeiler enthält daher in seinem Profil
schon das ganze Gewölbe, dieses ist seine Entfaltung, er selbst dessen
Einheit. Jeder der halbsäulenartigen Rundstäbe ("Dienste") erhält nun
sein eigenes Capitell, denn er ist durch seine Bedeutung für das Gewölbe
selbständiger geworden; nur der für das Mittelschiff bestimmte läuft ohne
Capitell wie vorher durch, um ein solches erst in seiner Kämpfer-Linie
anzusetzen. Die Capitelle dürfen jetzt nicht mehr die Wirkung eines satt
auflagernden Drucks darstellen; ihr steiler Kelch, das nicht angeschmiegte,
mehr sich ablösende, hier weniger geometrisch stylisirte Blattwerk erinnert
eher an den blätterbesetzten Knauf eines Baumstamms an der Stelle, wo er
in die Verästung übergeht. Später fallen die Capitelle ganz weg. -- Das
Höhestreben fällt mit dem Spitzbogenstyl an sich zusammen; die hohen
Spitzbögen, welche die breiten Räume zu ihrer Ueberspannung fordern,
ziehen die Strebepfeiler nach sich; der Drang der structiven Freiheit, der
diesen Styl erfand, enthielt zugleich diesen Trieb nach oben. Dieser Zug
dringt aber nun durch das Ganze; die Horizontal-Linie beschränkt sich
immer mehr, Alles streckt sich aufwärts, das Dach steigt in sehr steilem
(nicht, wie man meint, durch das Klima gefordertem) Giebel auf, es
herrscht der Verticularismus. Wie derselbe in aller Verzierung und
Scheingliederung die wagrechten Abschlüsse und Sonderungen überragt und
durchbricht, wird sich im folgenden §. zeigen; der Zug nach oben ist aber
wesentlich ein Drang nach wirklicher, gewaltiger Höhe und als letzter,
stärkster Ausdruck desselben ist hier wieder der Thurm hervorzuheben.
Er legt sich nicht mehr an die Vierung des Kreuzes, wie im romanischen
Styl, der an dieser Stelle eine Gruppe von zwei Thürmen aufzustellen
liebte, denn mit der Kuppel ist ja auch die Bedeutung dieses Puncts
als eines falschen Neben-Centrums aufgegeben, sondern an die Facade
so, daß das Hauptschiff sich nach vorn in ihm abschließt oder sein spitzer
Giebel zwischen zwei, die Länge der Nebenschiffe abschließenden Thürmen
aufsteigt. Indem sich nun mit einer, und zwar nicht nur an der Ein-
gangs-Seite des Langschiffes, sondern auch der Kreuzschiffe, die, durch
den breiteren Chor verkürzt, eines solchen Schmucks mehr bedürfen, ge-
steigerten Pracht der Facade dieser Hochbau vereinigt, wird jene schon
im romanischen Bau bewerkstelligte Aufhebung der Einseitigkeit des Innen-
baus (vergl. §. 590) um so entschiedener vollzogen, da der Thurm nicht
nur in eine mit den höchsten Pyramiden wetteifernde Höhe geführt, son-
dern zugleich noch weit mannigfaltiger, als im romanischen Bau, geglie-
dert wird. Auch hier wird nämlich die Mauermasse mehr und mehr in
gewaltige Pfeiler aufgelöst, zwischen denen Fenster sich öffnen, das Viereck
geht in das Achteck und dieses in den mit Maaßwerk geschmückten, luftigen
Rippenbau des Helms über. Man würde sich durch den hinreißenden

Form mehr übrig bleibt, und der Pfeiler enthält daher in ſeinem Profil
ſchon das ganze Gewölbe, dieſes iſt ſeine Entfaltung, er ſelbſt deſſen
Einheit. Jeder der halbſäulenartigen Rundſtäbe („Dienſte“) erhält nun
ſein eigenes Capitell, denn er iſt durch ſeine Bedeutung für das Gewölbe
ſelbſtändiger geworden; nur der für das Mittelſchiff beſtimmte läuft ohne
Capitell wie vorher durch, um ein ſolches erſt in ſeiner Kämpfer-Linie
anzuſetzen. Die Capitelle dürfen jetzt nicht mehr die Wirkung eines ſatt
auflagernden Drucks darſtellen; ihr ſteiler Kelch, das nicht angeſchmiegte,
mehr ſich ablöſende, hier weniger geometriſch ſtyliſirte Blattwerk erinnert
eher an den blätterbeſetzten Knauf eines Baumſtamms an der Stelle, wo er
in die Veräſtung übergeht. Später fallen die Capitelle ganz weg. — Das
Höheſtreben fällt mit dem Spitzbogenſtyl an ſich zuſammen; die hohen
Spitzbögen, welche die breiten Räume zu ihrer Ueberſpannung fordern,
ziehen die Strebepfeiler nach ſich; der Drang der ſtructiven Freiheit, der
dieſen Styl erfand, enthielt zugleich dieſen Trieb nach oben. Dieſer Zug
dringt aber nun durch das Ganze; die Horizontal-Linie beſchränkt ſich
immer mehr, Alles ſtreckt ſich aufwärts, das Dach ſteigt in ſehr ſteilem
(nicht, wie man meint, durch das Klima gefordertem) Giebel auf, es
herrſcht der Verticulariſmus. Wie derſelbe in aller Verzierung und
Scheingliederung die wagrechten Abſchlüſſe und Sonderungen überragt und
durchbricht, wird ſich im folgenden §. zeigen; der Zug nach oben iſt aber
weſentlich ein Drang nach wirklicher, gewaltiger Höhe und als letzter,
ſtärkſter Ausdruck deſſelben iſt hier wieder der Thurm hervorzuheben.
Er legt ſich nicht mehr an die Vierung des Kreuzes, wie im romaniſchen
Styl, der an dieſer Stelle eine Gruppe von zwei Thürmen aufzuſtellen
liebte, denn mit der Kuppel iſt ja auch die Bedeutung dieſes Puncts
als eines falſchen Neben-Centrums aufgegeben, ſondern an die Façade
ſo, daß das Hauptſchiff ſich nach vorn in ihm abſchließt oder ſein ſpitzer
Giebel zwiſchen zwei, die Länge der Nebenſchiffe abſchließenden Thürmen
aufſteigt. Indem ſich nun mit einer, und zwar nicht nur an der Ein-
gangs-Seite des Langſchiffes, ſondern auch der Kreuzſchiffe, die, durch
den breiteren Chor verkürzt, eines ſolchen Schmucks mehr bedürfen, ge-
ſteigerten Pracht der Façade dieſer Hochbau vereinigt, wird jene ſchon
im romaniſchen Bau bewerkſtelligte Aufhebung der Einſeitigkeit des Innen-
baus (vergl. §. 590) um ſo entſchiedener vollzogen, da der Thurm nicht
nur in eine mit den höchſten Pyramiden wetteifernde Höhe geführt, ſon-
dern zugleich noch weit mannigfaltiger, als im romaniſchen Bau, geglie-
dert wird. Auch hier wird nämlich die Mauermaſſe mehr und mehr in
gewaltige Pfeiler aufgelöst, zwiſchen denen Fenſter ſich öffnen, das Viereck
geht in das Achteck und dieſes in den mit Maaßwerk geſchmückten, luftigen
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[315/0155] Form mehr übrig bleibt, und der Pfeiler enthält daher in ſeinem Profil ſchon das ganze Gewölbe, dieſes iſt ſeine Entfaltung, er ſelbſt deſſen Einheit. Jeder der halbſäulenartigen Rundſtäbe („Dienſte“) erhält nun ſein eigenes Capitell, denn er iſt durch ſeine Bedeutung für das Gewölbe ſelbſtändiger geworden; nur der für das Mittelſchiff beſtimmte läuft ohne Capitell wie vorher durch, um ein ſolches erſt in ſeiner Kämpfer-Linie anzuſetzen. Die Capitelle dürfen jetzt nicht mehr die Wirkung eines ſatt auflagernden Drucks darſtellen; ihr ſteiler Kelch, das nicht angeſchmiegte, mehr ſich ablöſende, hier weniger geometriſch ſtyliſirte Blattwerk erinnert eher an den blätterbeſetzten Knauf eines Baumſtamms an der Stelle, wo er in die Veräſtung übergeht. Später fallen die Capitelle ganz weg. — Das Höheſtreben fällt mit dem Spitzbogenſtyl an ſich zuſammen; die hohen Spitzbögen, welche die breiten Räume zu ihrer Ueberſpannung fordern, ziehen die Strebepfeiler nach ſich; der Drang der ſtructiven Freiheit, der dieſen Styl erfand, enthielt zugleich dieſen Trieb nach oben. Dieſer Zug dringt aber nun durch das Ganze; die Horizontal-Linie beſchränkt ſich immer mehr, Alles ſtreckt ſich aufwärts, das Dach ſteigt in ſehr ſteilem (nicht, wie man meint, durch das Klima gefordertem) Giebel auf, es herrſcht der Verticulariſmus. Wie derſelbe in aller Verzierung und Scheingliederung die wagrechten Abſchlüſſe und Sonderungen überragt und durchbricht, wird ſich im folgenden §. zeigen; der Zug nach oben iſt aber weſentlich ein Drang nach wirklicher, gewaltiger Höhe und als letzter, ſtärkſter Ausdruck deſſelben iſt hier wieder der Thurm hervorzuheben. Er legt ſich nicht mehr an die Vierung des Kreuzes, wie im romaniſchen Styl, der an dieſer Stelle eine Gruppe von zwei Thürmen aufzuſtellen liebte, denn mit der Kuppel iſt ja auch die Bedeutung dieſes Puncts als eines falſchen Neben-Centrums aufgegeben, ſondern an die Façade ſo, daß das Hauptſchiff ſich nach vorn in ihm abſchließt oder ſein ſpitzer Giebel zwiſchen zwei, die Länge der Nebenſchiffe abſchließenden Thürmen aufſteigt. Indem ſich nun mit einer, und zwar nicht nur an der Ein- gangs-Seite des Langſchiffes, ſondern auch der Kreuzſchiffe, die, durch den breiteren Chor verkürzt, eines ſolchen Schmucks mehr bedürfen, ge- ſteigerten Pracht der Façade dieſer Hochbau vereinigt, wird jene ſchon im romaniſchen Bau bewerkſtelligte Aufhebung der Einſeitigkeit des Innen- baus (vergl. §. 590) um ſo entſchiedener vollzogen, da der Thurm nicht nur in eine mit den höchſten Pyramiden wetteifernde Höhe geführt, ſon- dern zugleich noch weit mannigfaltiger, als im romaniſchen Bau, geglie- dert wird. Auch hier wird nämlich die Mauermaſſe mehr und mehr in gewaltige Pfeiler aufgelöst, zwiſchen denen Fenſter ſich öffnen, das Viereck geht in das Achteck und dieſes in den mit Maaßwerk geſchmückten, luftigen Rippenbau des Helms über. Man würde ſich durch den hinreißenden

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/155>, abgerufen am 18.12.2024.